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Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer
Autoren: Hiromi Kawakami
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wahrscheinlich, den Blick geistesabwesend auf die Tafel gerichtet, in ihrem Klassenzimmer. Meine Mutter war noch nicht aus ihrem Zimmer gekommen. Sie pflegte in Intervallen zu schlafen. Hin und wieder jagte sie mir einen kleinen Schrecken ein, wenn ich sie mitten in der Nacht in der Küche antraf.
    Ich fragte mich selbst ganz offen, ob ich Rei hasste.
    »Ja, ich hasse ihn«, kam unverzüglich die Antwort.
    War »hassen« ein zu starkes Wort? Nein, es war eher zu schwach. Ich hasste Rei. Warum bist du gegangen? Ich hasse dich.
    Am Ende entfernte ich das Namensschild nicht. Und nenne mich noch immer Yanagimoto. Aber ich empfand Hass und das nicht nur pro forma. Ja, ich hasste meinen Mann aus tiefster Seele.
    Zugleich sehnte ich mich aus ebenso tiefster Seele nach ihm. Es gab etwas in mir, das Seiji nicht zu zähmen vermochte. Nur Rei konnte das. Nicht, weil er mein Ehemann war. Sondern weil er Rei war.
    Vielleicht hatte meine Mutter ihn deshalb nie gemocht. Schließlich hatte er ihr den Menschen genommen, der ihr am nächsten stand. Geschickt und mit Leichtigkeit hatte Rei mich in eine Kiste von genau der richtigen Größe - weder zu eng noch zu lose - eingepasst und abtransportiert, ohne auch nur das Geringste zurückzulassen. Dieser Mann namens Rei hatte ihr die Tochter, die ihr so nahe war, einfach entführt.
    Waren wir einander wieder näher gekommen, seit wir zusammen lebten? Drei Frauenkörper. Wie Kugeln prallten wir aufeinander. Wir hatten keinen gemeinsamen Kern, jede Kugel hatte ihren eigenen, sie bildeten keine Fläche, jede für sich war ein in sich geschlossenes dreidimensionales Gebilde.
    Das Schild mit dem Namen Tokunaga hing oben. Momo hatte einmal gesagt, sie würde lieber Tokunaga heißen, weil Momo Yanagimoto schwer auszusprechen sei. Dabei lachte sie. Sie lacht oft. Auch wenn sie jetzt etwas verschlossen wirkt, sprudelt das Lachen leicht in ihr hoch.
    Was mir bei Rei so schwer gefällen war, fiel mir bei Seiji leicht. Sein Name kam mir von Anfang an mühelos über die Lippen, ich konnte sogar spontan von hinten seine Schulter oder seine Hüfte berühren. Seiji hatte eine sanfte Stimme. Ich hatte ihn bei der Arbeit kennengelernt. Er ist fünf Jahre älter als Rei, der wiederum zwei Jahre älter ist als ich. Macht also sieben Jahre, die er älter ist als ich.
    Er hatte seinen Sprachstil mir gegenüber nicht verändert, war gleichbleibend höflich. Ganz selten durchbrach er die Distanz mit einer saloppen Redewendung, kehrte aber gleich zur ursprünglichen Förmlichkeit zurück, während ich fast zu vertraulich mit ihm umging.
    »Mach’s mir, Seiji«, sagte ich zum Beispiel zu ihm.
    Manchmal ging er darauf ein. Wenn nicht, entschuldigte er sich mit der üblichen distanzierten Höflichkeit.
    Ich nahm mir vor, ihn zu lieben. Das hatte ich beschlossen, als mir klar wurde, dass ich ihn mochte. Seiji wies mich nicht ab. Meine Gefühle flossen ihm zu. Das war ein Zeichen, dass ich ihn lieben würde. Starke wie schwache Gefühle flossen ihm gleichermaßen zu, vielleicht nicht direkt, aber doch in seine Richtung. Vor allem war ich dankbar, dass er mich nicht zurückwies. Rei war verschwunden, und ich hatte keine Heimat mehr, wusste nicht, wohin mit meinen Gefühlen. Ohne ein Objekt, auf das ich sie richten konnte, wusste ich nicht, wo ich mich befand. Ich war verunsichert, als stünde ich an einem Fluss, ohne unterscheiden zu können, in welche Richtung er floss.
    Seiji ist laut, wenn wir es tun, obwohl doch sein Lachen lautlos ist.
    Vom Bahnhof aus folgte man der Straße in südlicher Richtung und ging dann ein Stück geradeaus. Dann kam ein Laden mit einem Schild, auf dem in senkrechter Schrift »Musikinstrumente und Schallplatten« stand. Unter dem Schild musste man nach links abbiegen. Die Straße war schmal, aber eine Gasse war sie nicht. An einem Nudelimbiss ging es um die Ecke, und ein paar Häuser weiter befand sich das Mietshaus, in dem Rei vor unserer Hochzeit wohnte.
    »Wohnst du in einem einfachen oder in einem etwas teueren Haus?«, hatte ich ihn einmal gefragt. Er überlegte.
    »Möchtest du das unbedingt wissen?«, fragte er zurück.
    »Nein, ich habe nur so gefragt.«
    Auf dem Schild über dem Musikgeschäft war eine Gitarre abgebildet. Und eine Scheibe, die wohl eine Schallplatte darstellen sollte. Der Laden war ziemlich alt. »Hast du schon mal eine Platte dort gekauft?« Wieder musste Rei nachdenken. »Ich weiß nicht mehr. Kann sein, kann auch nicht sein.« Er war ein großzügiger Mensch.
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