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Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer
Autoren: Hiromi Kawakami
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Bescheid? Vielleicht schließt die Welt eines jungen Menschen schon sein ganzes Leben ein, ebenso wie in einem Tropfen Wasser der ganze Kosmos enthalten ist? Wie war das bei mir gewesen? Ich konnte mich nicht erinnern.
    »Deine Mutter ist ganz schön dumm, was?«, sagte ich laut.
    »Dumm?«, fragte Momo erstaunt und machte lächelnd einen Schritt auf mich zu. Ich hab dich lieb, meine Kleine, dachte ich plötzlich. Du bist ein gutes Kind. Ich hätte sie gern umarmt. Aber ich zögerte. Früher, als wir einander so nah waren, hatte ich dieses Zögern nicht gekannt und Momo, wenn mir danach war, einfach an mich gedrückt.
    Kurzentschlossen nahm ich sie in die Arme. Sie lachte und entwand sich mir.
    »Würdest du mal mit mir in ein Kaufhaus gehen?« Meine Mutter wollte einem Bekannten, der ihr einen Gefallen getan hatte, ein Geschenk zukommen lassen.
    Ich erklärte mich dazu bereit, denn ich hatte einige ähnliche Verpflichtungen. Im Kaufhaus folgten mir mehrere Gestalten. Eine sogar bis ans Ende der überfüllten Lebensmittelabteilung. Auch auf der Rolltreppe spürte ich etwas neben mir.
    Meine Verfolger hatten keine ausgeprägte Präsenz. Sie waren blass, bald kamen sie näher, bald fielen sie zurück. Ob sie männlich oder weiblich waren, war nicht zu unterscheiden.
    »Was hältst du von getrockneten Pilzen-Shiitake, zum Beispiel?«, fragte meine Mutter.
    »Getrocknete Shiitake,ja...« Unverbindliche Zustimmung ist in solchen Fällen das Beste. Bei zu großer Direktheit hätten wir uns beide unwohl gefühlt.
    Einschließlich der Geschenke für meine Bekannten gab ich insgesamt vier Päckchen getrocknete Shiitake in Auftrag. Während ich mit einem Kugelschreiber die Bestellscheine ausfüllte, kam eine Verfolgerin hinzu. Eindeutig eine Frau. Obwohl wir im Kaufhaus waren, verfügte sie über eine starke Präsenz.
    »Ich muss mal auf die Toilette«, sagte ich, schrieb hastig die Adressen zu Ende, drückte meiner Mutter die Formulare in die Hand und rannte zur Toilette, die in einer versteckten Ecke lag. Im Spiegel sah ich die verschwommene Gestalt einer Frau. Ich musterte sie aus dem Augenwinkel und hastete in eine Kabine. Mir wurde schlecht, und ich musste mich ein wenig übergeben.
    Nachdem die Übelkeit sich gelegt hatte, spülte ich mir am Waschbecken den Mund aus. Ich legte den Kopf zurück und gurgelte. Die Frau war noch da. Ob sie mir etwas sagen wollte? So etwas hatte ich noch nie erlebt. Und dass mir auch noch übel geworden war. Ob die Frau die Ursache gewesen war, wusste ich allerdings nicht.
    Meine Mutter wartete schon.
    »Wollen wir etwas zu Mittag essen?«, fragte sie.
    »Lass uns hier in ein Restaurant gehen.«
    »Ich nehme vielleicht Chirashizushi.«
    Die Umrisse der Frau flimmerten. Als würde eine Kerze flackern, wurde es abwechselnd hell und dunkel um mich. Wenigstens war mir nicht mehr übel. Ich hatte alles Widerwärtige von mir gegeben und ausgespuckt. Gefolgt von der Frau betrat ich das Restaurant. Meine Mutter bestellte Aal, dafür entschied ich mich nun für Chirashizushi. Der Saal hatte eine hohe Decke. Die Stimmen hallten. Meine Mutter und ich aßen unsere Portionen ganz auf. Die Frau verschwand, sobald wir das Kaufhaus verließen.
    Bald darauf erschien meine Verfolgerin an zwei Tagen hintereinander. Ich beschloss, noch einmal nach Manazuru zu fahren. Ich hatte das unbestimmte Gefühl, die Frau könnte etwas mit Rei zu tun haben.
    Momo hatte gesagt, sie würde gern ans Meer fahren, also fragte ich sie, ob sie mich begleiten wolle. Sie nickte.
    Ich: Es ist noch sehr frisch, du musst dich warm anziehen. Sie: Ja. Ich: Der Zug ruckelt wahrscheinlich ziemlich. Sie: Ja.
    Momo wurde leicht reisekrank.
    »In letzter Zeit macht mir das nichts mehr aus«, erklärte sie mir. »Ich fahre ja auch mit der Bahn zur Schule.« Als sie den Wunsch geäußert hatte, eine Privatschule zu besuchen, auf der sie von der Mittelstufe bis zum Abitur durchgehend bleiben konnte, hatte ich mir weniger Sorgen um die Aufnahmeprüfung oder die Kosten gemacht, als um die Fahrt mit der Bahn.
    »Ach, Mama, du hast mal wieder gar nichts mitgekriegt.« Momo lachte. »Hast du geschäftlich in Manazuru zu tun?«
    »Nein.«
    »Warum fahren wir dann dorthin?«
    »Nur so.«
    »Es ist ja nicht gerade die beste Saison, um an die See zu fahren. Kommt Oma auch mit?«, fragte Momo heiter.
    »Nein, Oma möchte nicht.«
    »Warum nicht?«
    Sie wolle keinen so »starken« Ort besuchen, hatte meine Mutter gesagt. »Das ist mir zu anstrengend. Fahrt
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