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Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer
Autoren: Hiromi Kawakami
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Der letzte, der einfach so verschwinden würde. Damit hätte ich nie gerechnet.
    Auf dem Weg zu Rei war ich einmal in dem Musikgeschäft gewesen. Ich ging in seine Wohnung, sooft ich Zeit hatte, und nicht nur, wenn er da war.
    »Du bist wohl ein Tierchen, das sich überall schnell zu Hause fühlt?«, fragte er mich.
    »Nein, so geht es mir zum ersten Mal«, erwiderte ich. Rei lachte. Wie Momo war er ein Mensch, der viel lacht.
    Der Laden war warm und viel heller, als man von außen vermutete. Eine Männerstimme schmetterte ein schnulziges Lied. Ein etwa zwanzigjähriger Jüngling mit langen Haaren wippte leicht vor sich hin, aber nicht im Takt. Außer mir gab es keine Kunden.
    Während ich die Stapel mit westlicher Musik Platte für Platte durchsah, ergriff mich der starke Drang, Reis Wohnung aufzusuchen. Obwohl ich mich schon ganz in der Nähe befand. Kurz vor dem Ziel konnte ich es dennoch kaum erwarten.
    Ich hätte den Laden verlassen können, ohne etwas zu kaufen, trotzdem wählte ich aufs Geratewohl eine Schallplatte aus. Auf dem Cover war ein Schwarzweiß-Foto von einer Frau. Die Sängerin, dachte ich, aber es handelte sich um ausgesprochen rhythmische Instrumentalmusik. In Reis Wohnung, in die ich in aller Eile gestürmt war, packte ich die Platte gleich aus, und wir hörten sie uns an.
    »Nicht übel, sie gefällt mir«, sagte Rei. Also schenkte ich sie ihm. Als wir verheiratet waren und ich das schwarzweiße Cover zwischen seinen zahlreichen Schallplatten entdeckte, freute ich mich. Ein Wiedersehen, dachte ich. Ein Wiedersehen. Ein Wort, das seit seinem Verschwinden schwierig war zu denken.
    Elternabende waren etwas, an das ich mich nie gewöhnen konnte.
    Die staubigen Klassenzimmer, die Kalligrafien der Schüler, die sich an den Wänden wellten, die Körperwärme der Mütter, ihre verschiedenen Parfüms, zwischen ihnen der ein oder andere Vater, stets vorschriftsmäßig im dunkelblauen oder schwarzen Anzug. Es war für mich nicht nachvollziehbar, dass ich früher selbst fast jeden Tag in solch einem Raum verbracht hatte. In der Mittelstufe hatte ich mich im Klassenzimmer ebenso zu Hause gefühlt wie in der Grundschule. Vielleicht, weil ich es nicht anders kannte? Zumindest hatte ich dieses unbehagliche Gefühl, ein Fremdkörper zu sein, damals nicht verspürt.
    Früher konnte ich mich anpassen, ohne darüber nachzudenken. Auch Rei war mir gleich so vertraut erschienen, dass ich mich entschied, ihn zu heiraten und mein ganzes Leben mit ihm zu verbringen. Aber Vertrautheit allein hilft nicht. Sie ist wie eine Fata Morgana, eine ferne Landschaft, die über dem Meer schwebt und sich jederzeit auflösen kann.
    Mit gesenktem Blick saß ich bei einem dieser ungeliebten Elternabende. Es wurde viel geredet. Der Lehrer: Bitte erzählen Sie uns, wie sich Ihr Kind in letzter Zeit verhält. Die Eltern: Wir sind unschlüssig, ob wir unserer Tochter ein Handy kaufen sollen oder nicht. Seit sie in die neunte Klasse geht, ist sie so aufsässig. Wir haben solche Probleme mit ihr. Oder: Mein Sohn klagt ständig über Müdigkeit. Er weiß sicher selber, dass er viel zu viel unternimmt, aber er kann seine Zeit einfach nicht vernünftig einteilen. Er war schon früher oft krank, und auch heute muss er noch oft zum Arzt. Vielleicht muss er erst mal zu Kräften kommen.
    Aber niemand sagte, was er wirklich sagen wollte. Es war nicht der richtige Ort dafür. Ich hörte mir an, wie dieses oder jenes Kind »in letzter Zeit so war«, konnte aber selbst auf dieser Ebene nicht reden. Ich war verwirrt.
    »Ich war beim Elternabend«, verkündete ich, als ich nach Hause kam. Momo nickte mürrisch. Wenigstens hast du es mal nicht vergessen.
    Ich hatte nämlich schon zweimal einen verpasst. Du warst heute nicht beim Elternabend, sagte Momo beide Male. Sie wusste es, weil die Eltern zuvor immer den Unterricht besuchten. Sie machte mir zwar keine Vorwürfe, aber ich schämte mich trotzdem, weil ich mich vielleicht unbewusst vor etwas gedrückt hatte, das ich nicht mochte.
    »Was hast du denn gesagt?«, fragte Momo.
    »Dass es dir in der Schule gefallt und so was...«
    »Hättest du dir sparen können.«
    Ich seufzte. Aber so leise, dass Momo es nicht hörte. Ein schwieriges Alter. Sie schien über ein weitaus größeres Selbstvertrauen zu verfügen als ich. Selbstvertrauen, was das vor ihr liegende Leben anging. Aber vielleicht kam das daher, dass sie noch nicht wusste, was sich jenseits der Klippe befand.
    Oder wusste sie womöglich doch
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