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Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer
Autoren: Hiromi Kawakami
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ruhig nur ihr beide«, sagte sie in ihrem singenden Tonfall. Wie nah sie mir doch war. Singend, lachend und von unbekannten Wesen verfolgt, lebten wir drei Frauen in diesem Haus.
    »Ich fahre zum ersten Mal nach Manazuru.« Momo lachte.
    »Ich war neulich ja auch das erste Mal dort.« Wir lachten zusammen. Unversehens erinnerte ich mich, wie der Wind mir über Ohren und Gesicht strich, als ich auf der Klippe stand, während der Himmel sich plötzlich weitete und ich tief unter mir das Meer erblickte.

2
    »Die Eisenbahn macht gar keine Geräusche«, sagte Momo.
    »Was für Geräusche?«
    Momo lauschte mit geneigtem Kopf. »Naja, so tatat tatat tatat«, sagte sie leise.
    Dann drehte sie sich zum Fenster und sah hinaus. Wir saßen einander schräg gegenüber, in einer Vierersitzgruppe. Momo am Fenster, ich am Gang. Der Zug war kurz vor Mittag aus Tokio abgefahren. Momo hatte recht. Das typische rhythmische Rattern schwerer Eisenbahnwaggons fehlte wirklich. Das laute Rauschen wurde vom Gehör nicht als markantes Geräusch wahrgenommen, da es keinen eindeutigen Rhythmus hatte. Ich hatte das Gefühl, in einem lauten Raum zu schweben.
    Mein Blick fiel auf Momos Hals. Er war schlank. Aber längst nicht mehr so zart wie in den ersten Jahren, als ich immer die Angst hatte, er könnte bei der leisesten Berührung brechen.
    Möchtest du Tee? Ich stellte zwei kleine Pet-Flaschen auf die Fensterbank. Momo griff nach einer, stellte sie aber gleich wieder zurück. Ich schraubte die andere auf und trank. Die Flüssigkeit rann mir durch die Kehle. Kühl und angenehm. Möchtest du nicht doch welchen?, fragte ich wieder. Momo nahm die Flasche. Sie zögerte. Nein, sagte sie, oder doch, und schüttelte die Flasche. Der Tee schäumte.
    Hör auf, das ist kein Spielzeug, ermahnte ich sie wie ein kleines Kind. Ich spiele doch gar nicht, erwiderte sie patzig. Die unerwartete Schärfe ihres Tons verletzte mich. Das war sicher nicht Momos Absicht gewesen. Sie hatte nur reagiert.
    Allein Momo konnte mich auf diese Weise verletzen. Sie kannte kein Erbarmen. Sorglos traf sie mich an den empfindlichsten Stellen. Ohne zu wissen, dass sie eitern und Narben hinterlassen würden. Allerdings zeigte ich mich ihr auch stets von meiner weichsten Seite, ich konnte nicht anders. Ich hätte mich besser schützen sollen. Doch das Bewusstsein, dass Momo einst Teil meines Körpers gewesen war, hinderte mich daran, Distanz aufzubauen.
    »Ein Strandresort, direkt am Meer«, sagte Momo laut.
    »Ein Resort - ja, fast etwas peinlich.« Als ich lachte, lachte sie auch.
    Ich wollte mit Momo nicht in der Pension mit dem Schild »Suna« übernachten. Der Mann und die Frau, mutmaßlich Mutter und Sohn, strahlten eine eigentümlich erwachsene Atmosphäre aus, und ich wollte dort nicht mit meinem Kind übernachten. Ich ahnte, dass Momo und ich uns fehl am Platz fühlen würden.
    Die Zimmervermittlung am Bahnhof hatte uns die Hotelanlage am Strand empfohlen. Wollen wir?, Momo sah mich fragend an. Ihr Gesicht wirkte kindlich. Die Angestellte rief in dem Hotel an. Momo ging nach draußen. Der Himmel war weißlich. Es war nicht sehr kalt. In Tokio herrschten wesentlich niedrigere Temperaturen. Am Meer ist es immer wärmer. »Die Pflaumenblüte hat schon begonnen«, sagte die Frau an der Information. »Eine Übernachtung, ja? Sie können jederzeit einchecken.«
    Komm, wir gehen ans Meer, sagte Momo und machte ein paar tänzelnde Schritte.
    Das Meer ist hier überall.
    Ich war so lange nicht am Meer!
    Früher waren wir drei - Rei, Momo und ich - auch immer ans Meer gefahren. Kein Jahr ließen wir aus. Selbst nach Reis Verschwinden fuhren wir noch jedes Jahr hin, bis Momo zehn war. Beim ersten Mal war Momo noch keine drei Monate alt gewesen und konnte ihr Köpfchen noch nicht hochhalten. Kaum standen wir mit ihr am Strand, bekam ich Angst. Um mich selbst hatte ich keine Angst, aber sobald ich mich in Momo, das Baby, hineinversetzte, packte mich die Angst.
    Für ein Baby war das alles zu viel, der Wind, das Salzwasser, das Rauschen. Schützend beugte ich mich tiefer über Momo. Sie schrie. Ihr ist zu warm, sagte Rei. Deshalb weint sie.
    Dabei hatte sie Angst. Es ist ganz natürlich, dass ein Baby schreit, wenn es Angst hat. Rei verstand überhaupt nichts. Das Meer ist riesig, was?, sagte er zu Momo. Ich will nach Hause, sagte ich. Jetzt sofort. Rei war ganz erstaunt, dass ich so sehr darauf bestand. Von Herzen erstaunt.
    Nachdem wir uns für etwa eine Stunde in ein Haus geflüchtet
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