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Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer
Autoren: Hiromi Kawakami
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Er ist noch nicht fertig«, hatte Seiji gesagt.
    Nachdem ich aufgelegt hatte, fühlte ich mich leichter. Seijis liebenswürdiger Ton hallte noch lange in mir nach.
    Kinder werden schnell erwachsen, wiederholte ich seine Worte.
    Momo verhielt sich nun weniger aufsässig und aggressiv. Auch ihre verletzenden Angriffe wurden seltener.
    Ich dachte daran, wie ich Momo eines Abends im letzten Jahr mit dieser Gestalt auf der Wiese hatte sitzen sehen. Es musste Rei gewesen sein. Der Schatten war sehr dunkel, aber auch sehr flüchtig gewesen.
    »Was wolltest du denn überhaupt in Manazuru?«, fragte Momo.
    »Tja, was eigentlich? Ich weiß es und weiß es auch wieder nicht«, antwortete ich.
    Momo machte ein vorwurfsvolles Gesicht. »Du hast Oma und mich im Stich gelassen und bist dauernd nach Manazuru gefahren.«
    »Doch nicht dauernd. Ich war nur drei Mal alleine dort.«
    »Wirklich?« Erstaunt riss Momo die Augen auf. »Nur dreimal? Mir kommt es viel mehr vor. Aber wenn du es sagst.«
    Momo wusste Bescheid. Dass ich in Manazuru etwas zurückgelassen hatte. Etwas, das ich nie wieder bekommen würde.
    Wenn ich allein in meinem Zimmer war, rief ich nach dem, was mir gefolgt war, aber nichts erschien mehr. Weder als schwache noch als starke Präsenz, weder in Gestalt einer Frau noch in der eines Mannes. Nichts.
    Es fühlt sich leer an, murmelte ich.
    Dennoch spürte ich, dass etwas diese Leere zu füllen begann. Kanten musste man säubern und in Wasser kochen. Kanten und Wasser waren gleichermaßen durchsichtig, aber da sie eine unterschiedliche Dichte besaßen, verschmolzen sie nur träge und unwillig miteinander. Auf eine ganz ähnlich träge Art füllte sich meine Leere.
    Die Konsistenz dessen, was sie füllte, hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Sand, aber es war kein Sand. Die Wand um die leere Stelle war rauh. Die rauhe Wand und der körnige Sand trafen wie Kanten und Wasser aufeinander.
    »Momo, es war dein Vater, mit dem du auf der Wiese gesessen hast, oder?«
    Momo erstarrte für einen Moment und atmete dann aus.
    »Mein Vater?«, fragte sie.
    Ohne zu antworten, sah ich ihr ins Gesicht. Die Konturen waren nicht fest. Wie oft würden sie sich noch ändern, ehe ihr Wachstum abgeschlossen war?
    »Das war mein Vater?«, fragte sie noch einmal.
    Schweigend musterte ich sie. »Ich habe mich gefürchtet«, murmelte sie. »Weil ich nichts wusste, hatte ich Angst. Und weil ich Angst hatte, fühlte ich mich zu ihm hingezogen und wollte mit ihm gehen.«
    Ich fröstelte.
    »Gut, dass du nicht mitgegangen bist.« Ich berührte ihre Schulter, und Momo nickte. Ich nahm sie fest in die Arme. Und drückte sie. Zweimal.
    Schon von Weitem sah ich die beiden die Straße entlang kommen.
    Die Säume ihrer vom Wind gebauschten Jacken flatterten. Sie gingen nebeneinander, und ihre Augen strahlten, obwohl sie sie wegen der starken Helligkeit zusammenkniffen.
    Ob der Mann die Schuhe trug, die er sonst immer zum Strand anzog? Bei jedem Schritt rieselten Sandkörner heraus. Seine kantigen Schultern bewegten sich nicht beim Gehen. Auch die festen Hüften der Frau schwangen nicht.
    »Herzlich willkommen!« Ich winkte ihnen zu. Sie winkten zurück.
    Die Sonne schien heute besonders schön. Wir hatten uns im Bahnhof Tokio verabredet. Von der hohen Decke am Ausgang Marunouchi hallten die fröhlichen Stimmen von Menschen in Feiertagslaune wider.
    »Die Zugfahrt von Hiroshima nach Tokio dauert ziemlich lange«, sagte Saki.
    »Und alles nur, weil du Flugangst hast«, sagte ihr Mann.
    Die beiden lachten.
    »Vielen Dank, dass du extra gekommen bist, um uns abzuholen.« Saki verbeugte sich. »Obwohl wir ja eigentlich gar nicht mehr verwandt sind.«
    »Doch, doch, die nächsten fünf Monate gehöre ich noch zur Familie Yanagimoto.«
    Saki lächelte.
    Damals, als wir uns beim Tod meiner Schwiegermutter begegnet waren, hatte sie noch sehr jung und zierlich gewirkt, doch nun war sie kräftiger und blickte mich geradeheraus an. Sie hatte die großen Augen mit doppelter Lidfalte, die für die Yanagimotos typisch waren.
    »Unser Hotel liegt ein paar Minuten zu Fuß von hier entfernt«, sagte Ryūzō, Sakis Mann.
    »Momo kommt später nach«, sagte ich.
    Als Saki mich eines Sonntags plötzlich anrief und sagte, sie würden uns gern sehen, da sie in Kürze nach Tokio kommen würden, zögerte Momo und sagte, sie hätte eine andere Verabredung. »Vaters Schwester also«, murmelte sie, als würde sie dem Wort »Schwester« eine neue Form geben.
    »Unser Besuch kommt
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