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Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer
Autoren: Hiromi Kawakami
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reichte mir eine Decke aus er Gepäckklappe. Ich faltete sie auseinander und legte sie mir über den Schoß. Als ich noch immer fror, hüllte ich mich bis zu den Schultern ein.
    »So kalt ist dir?«, fragte Seiji erstaunt.
    Ich schloss die Augen, um den Klang seiner Stimme und meine Empfindungen in mir einzuschließen. Die Maschine startete sogleich und befand sich bald in horizontalem Flug. Ich legte mir die Decke wieder über den Schoß aus und sah Seiji an. Obwohl er direkt neben mir saß, erschien er mir sehr weit fort. Immerhin war er mir näher als sonst, wenn ich ihn nicht sah.
    »Hast du Termine dort?«, fragte ich ihn.
    »Nur einen.«
    »Zum Abendessen?«
    »Nein, wir beide essen zusammen.«
    Das dumpfe Rauschen in meinen Ohren verschwand, und ich hörte die Außengeräusche wieder ganz klar.
    »Meine Ohren sind wieder frei.«
    »Meine auch, im Moment.«
    Wir lächelten einander zu. Seiji nieste leise. Wir waren doch lange zusammen gewesen. Ich wurde traurig. Meine mühsam beherrschten Gefühle drangen nach außen. Ich nahm Seijis Hand.
    »Ah«, sagte er und erwiderte den Druck ganz leicht.
    Meine kalte Hand erwärmte sich allmählich. Die Flugbegleiterin erkundigte sich, was wir zu trinken wünschten.
    »Kaffee«, sagte Seiji und ließ meine Hand los.
    »Für mich bitte auch«, sagte ich.
    Nachdem er seinen Kaffee ausgetrunken hatte, las er die ganze Zeit in einem Buch.
    Ich hatte mich verlaufen.
    Eigentlich hätte ich, wenn ich eine bestimmte Gasse hinauf, dann wieder hinunter und noch einmal hinaufging, zu dem Schrein gelangen müssen.
    Als ich ihn nicht fand und zum Ausgangspunkt zurückgehen wollte, schlug ich einen falschen Weg ein, der immer weiter geradeaus führte.
    Am Ende mündete er in eine Treppe, die nach oben führte. Ich stieg hinauf und kam in einen kleinen Park. Dort saß auf den Stufen eine alte Dame. Ihr Stock lag auf dem Weg, und sie betrachtete den Park.
    »Wohnen Sie hier?«, fragte ich sie.
    Sie bejahte.
    »Kennen Sie sich mit den Hausnummern hier aus?«
    »Nicht richtig. Ich bin eigentlich nicht von hier. Bis vor fünf Jahren, als mein Sohn hierher versetzt wurde, habe ich allein in Tokio gelebt. Er hat darauf bestanden, dass ich mit hierher ziehe, weil er sich sonst zu viele, Sorgen machen würde. Aber die steilen Wege hier machen mir ernsthaft zu schaffen.«
    Das Meer glänzte. Es hatte eine ganz andere Farbe als in Manazuru.
    Ich setzte mich neben sie. Wieder spürte ich eine leichte Präsenz, hätte aber nicht sagen können, ob es sich um einen Mann, eine Frau oder vielleicht sogar ein Kind handelte. Die alte Dame zog eine kleine Dose aus der Tasche und öffnete sie. Es waren weiß bestäubte Bonbons darin. Sie bot mir eins an. Es schmeckte nach Pfefferminz.
    »Schön warm heute.«
    »Morgen ist ja auch schon der erste April.«
    Sie erhob sich und massierte sich die Hüfte. Ich reichte ihr ihren Stock. Zwischen den Häusern kam eine Katze hervor. Sie war schwarz. Die alte Frau fuchtelte mit dem Stock, um sie zu verjagen. Aber das Tier blieb unbeeindruckt sitzen.
    »Ksch!«, machte die alte Frau. Aus ihren Mund sprühte Speichel. Die Katze sauste mit einem Satz den Hang hinunter.
    Endlich war es mir gelungen, das Haus von Reis Eltern wiederzufinden. In seinem Garten standen dichte, hohe Bäume.
    Es sei zu aufwendig, einen Gärtner zu bestellen, sagte Reis Vater gelassen, als er meinen Blick sah.
    Der Hausaltar war nicht groß. Ich legte das Taschentuch neben das Foto von Rei, zündete ein Räucherstäbchen an der Kerze an, die sein Vater aufgestellt hatte, und verteilte den Rauch ein wenig mit der Hand.
    Ich betete andächtig und entfernte mich anschließend rückwärts vom Altar. Das Foto von Rei hatte ich noch nie gesehen. Wahrscheinlich stammte es aus der Zeit vor unserer Hochzeit, als sein Gesicht noch nicht so schmal war.
    In der Ecke gegenüber vom Altar stand ein niedriger Tisch mit einer Vitrine. In ihr befand sich ein Hofstaat aus Puppen für das Mädchenfest und eine Vase mit drei Pfirsichzweigen.
    »Sind das Sakis Hina-Puppen?«, fragte ich den Vater. Saki war Reis jüngere Schwester.
    »Nein, sie haben meiner verstorbenen Frau gehört.«
    Sie hatten lange ganz hinten in einem Schrank gelegen, aber vor einigen Jahren hatte er sie hervorgeholt und im Altarzimmer aufgestellt. Sie schufen eine freundlichere Atmosphäre. Es heiße ja, die Töchter würden keinen Mann finden, wenn man die Hina-Püppen ständig aufstellte, aber seine einzige Tochter sei ja längst
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