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Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer
Autoren: Hiromi Kawakami
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wieder an zu zeigen. »Dort habe ich gewohnt. Dort bin ich krank geworden. Da habe ich mich nach meiner Krankheit erholt. Da bin ich alt geworden. Und dort wurde ich geboren.«
    Der Bus drosselte die Geschwindigkeit. Sooft sie mit dem Finger auf eine Stelle zeigte, leuchtete diese matt auf. »Es ist schön hier«, sagte ich und brachte mein Gesicht näher an ihres heran.
    »Ja, sehr schön«, pflichtete sie mir bei.
    Sonnenstrahlen drangen durch die Bäume. Es hatte aufgehört zu regnen. Ich sehnte mich nach Momo.
    »Ich will nicht sterben.« Dieser Wunsch war stärker als meine Sehnsucht nach Momo.
    Was sollte aus meiner Mutter und Momo werden, wenn ich tot war? Selbst wenn Momo schon sehr selbständig war, würde mein Tod sie zum Weinen bringen. Auch meine Mutter würde weinen.
    In meiner Kehle steckte noch immer dieses harte Ding, und ich verspürte dieses Stechen in der Brust. Der Bus kurvte durch den Wald, und die Frau fuhr fort, mir die Orte ihrer Vergangenheit zu zeigen.
    Schließlich hielt der Bus an.
    Wir stiegen aus und standen am Ende der Landzunge.
    Ich war schon einmal hier gewesen. Das weiße Rasthaus, das zuerst eingestürzt und dann wieder erstanden war, nachdem ich dort Kaffee getrunken hatte, war nun bis zur Unkenntlichkeit verfallen.
    Die Frau ging vor mir her die Treppe zum Strand hinunter. Sie führte auf einen betonierten Abhang, an den sich weitere Stufen anschlossen.
    Es war windstill. Die See hatte sich zurückgezogen, und der steinige Meeresboden lag bis zu einem großen Felsen weit draußen frei.
    »Wollen wir hingehen?«, fragte die Frau.
    Sie nahm mich an der Hand, und wir sprangen von Stein zu Stein. Aber der Felsen erwies sich als so steil und zerklüftet, dass wir ihn nicht erklimmen konnten. Wir kehrten an den Strand zurück und blickten auf den Horizont, bis die Sonne untergegangen war.
    »Bist du zufrieden?«, fragte sie.
    »Ja«, antwortete ich im Ton eines kleinen Kindes, das mit seiner Mutter spricht. »Ja, und diesmal fahre ich wirklich nach Hause.«
    »Das ist gut«, sagte die Frau milde und begann vor mir die Treppe hinaufzusteigen. Ihre Beine waren schlank. Am liebsten hätte ich mich an ihnen festgeklammert, wie vor kurzem das Kind.
    »Ich bin traurig«, sagte ich.
    »Ich weiß. Aber da man kann nichts machen.«
    »Ich bin aber trotzdem traurig.«
    »Du musst jetzt gehen«, sagte die Frau und brachte mich an den Bus. Als ich mich umdrehte, winkte sie mir zu.
    Der Bus fuhr wieder durch das Wäldchen und den Hügel hinunter. Unten lag die Stadt. Sicher war sie nun nicht mehr verfallen, und Häuser und Geschäfte waren hell erleuchtet.
    Ich spürte etwas und drehte mich um. Es war Seiji.
    »Seiji!«, rief ich und noch einmal: »Seiji!«
    Mit einem vagen Ausdruck wandte er sich mir zu. Er bewegte den Mund, schien etwas zu sagen. Was, konnte ich nicht verstehen.
    Einen Augenblick später war Seiji verschwunden, und der Bus fuhr in die Stadt ein. Die Fenster der Häuserreihen, die sich bis ans Meer erstreckten, waren von weißem und gelblichem Licht erhellt. Ich stieg am Bahnhof Manazuru aus und kaufte mir eine Fahrkarte. Ein paar Frauen, die vor dem Schalter standen, unterhielten sich darüber, dass der Eilzuschlag hier etwas günstiger sei als im Zug beim Schaffner. Mit einem Windstoß fuhr mein Zug in den Bahnhof ein. Ich drehte mich noch einmal um. Zwei Reiher flogen in Richtung des Landesinneren. Ihre weißen Schwingen leuchteten in der Dunkelheit.
    »Manazuru«, flüsterte ich sehnsüchtig. Auch wenn ich noch hier war, empfand ich große Wehmut. Wieder verspürte ich einen Stich in der Brust.

8
    »Ich werde bald siebzehn«, sagte Momo.
    Das hieß, sie war jetzt sechzehn Jahre alt.
    Ich hatte ihr Alter schon länger nicht nachgerechnet. Wann hatte ich das letzte Mal richtig mitgezählt? - Ein Jahr und elf Monate alt. Zwei Jahre und acht Monate alt. Drei Jahre und zwei Monate alt.
    Ich war sechsundzwanzig gewesen, als ich Rei kennenlernte. In zehn Jahren würde Momo genauso alt sein.
    Wie wenig Zeit wir nach Reis Verschwinden miteinander verbracht hatten.
    »Wie schnell die Zeit vergeht«, sagte ich. Momo lachte.
    »So schnell vergeht sie doch gar nicht«, sagte sie.
    »Wie dann? Etwa langsam?«, fragte meine Mutter.
    »Nein, langsam auch nicht. Eben gerade richtig.«
    »Soso, gerade richtig«, sagte meine Mutter vergnügt. »Früher kam mir das sicher auch mal so vor. Aber jetzt verfliegt sie nur so.«
    Wir drei saßen zusammen und machten Handarbeiten. Momo nähte an einem
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