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Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hiromi Kawakami
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überwältigt, umschlang ich ihn fester. Ein Schwarm Reiher erhob sich von der Wiese, etwa zwanzig oder dreißig Vögel, die mit großen Flügelschlägen davonflogen.
    »Habe ich dich getötet, Rei?«
    Er antwortete nicht.
    Ich hatte ihm die Kehle zugedrückt. Dennoch war er nicht gestorben. »Eine Frau wie du will mich erwürgen? So ein Schwächling bin ich wirklich nicht.« Rei lachte. Ich gab ihm eine Ohrfeige. Ein leises Klatschen ertönte, das kraftlos verhallte. »Tut nicht weh.« Wieder lachte er.
    Ich wollte ihn umbringen. Er sollte von meiner Hand sterben, nicht von der eines anderen.
    Warum verlor man am Ende so völlig den Boden unter den Füßen, wenn man jemanden liebte? Obwohl ich das Gewicht von Reis Körper ganz stark gespürt hatte, verlor er unversehens seine Form, wurde transparent, und meine ausgestreckten Hände griffen ins Leere.
    Ich betastete Reis Körper neben mir auf der Bank. Haltlos bedeckte ich ihn von der Hüfte bis zu den Rippen, von der Brust bis zum Hals, vom Kinn über Mund und Nase bis zur Stirn mit Küssen. Mein Speichel floss, voll heftigem Verlangen umklammerte ich ihn noch fester, rief seinen Namen, rief »ich liebe dich«. Obwohl wir so eng aneinander gepresst saßen, dass nicht die geringste Distanz zwischen uns war, und meine Begierde nicht nachließ, begann Reis Körper - ach, welche Qual, welche Qual - sich aufzulösen, löste sich ganz auf, bis nur das Gefühl blieb, dann zerstob auch das Gefühl und nichts blieb, obwohl die Begierde nicht verschwand, bis in alle Ewigkeit. Die Reiher flogen davon.
    Ich ließ Rei los und musterte ihn genau.
    Neben mir saß ein Mann mit schwarzem Haar, sein Atem war warm, er wirkte desinteressiert.
    »Rei, unser Baby, unsere kleine Momo, ist erwachsen geworden. Sie wird mich verlassen und allein in die Welt hinnausgehen. Sie hat deinen Blick, den verwegenen Blick. Bald wird sie leidenschaftlich lieben oder hassen.«
    Rei lächelte.
    »Momo«, sagte er, als würde er sich den Namen auf der Zunge zergehen lassen.
    Reiher glitten im Tiefflug heran. Flügel schlagend landete einer nach dem anderen auf der Wiese.
    Noch einmal streckte ich die Arme nach Rei aus, um ihn zu umschlingen.
    Doch dort, wo ich seinen Körper geglaubt hatte, war nichts.
    Langsam führte ich meine Arme zusammen. Zuerst formten sie einen Kreis, dann kamen sie überkreuz, und schließlich umarmte ich mich selbst.
    »Bist du fort?«, rief ich.
    »Ich bin doch da.« Die Frau erschien.
    »Nicht du! Rei.«
    »Rei war von Anfang an nicht hier«, sagte sie.
    Mir wurde klar, dass sie recht hatte. Wieder sah ich auf den Fahrplan neben der Bank. Der Bus fuhr in zehn Minuten. Auf der Wiese scharten sich nur die Reiher.
    »Ich bin müde«, klagte ich, denn ich fühlte mich noch erschöpfter als vorher.
    Wie wehleidig ich war. Ich musste selbst ein bisschen lachen. Immer und immer wieder war ich müde. Ich hätte vor Müdigkeit schreien, stöhnen und toben können. Doch es war nur meine Seele, die aufgewühlt war, und weil mein Körper nicht Schritt halten konnte, regte ich mich immer mehr auf, bis ich das Gefühl bekam, aus der eigenen Haut zu fahren.
    Irgendwann hatte ich gelernt, diese Erschöpfung zu beschwichtigen.
    »Die meisten Dinge kann man beherrschen«, pflichtete die Frau mir bei.
    Sie wurde von immer mehr Angehörigen umringt. Eine ältere Frau, eine junge, ein alter Mann, einer, der nicht mehr ganz jung war, ein junger, Kinder und noch mehr Kinder. Alle streckten die Hände nach ihr aus. Einer griff nach ihrem Bein, ein anderer fasste sie am Arm, jemand hockte sich auf ihre Schulter, und noch jemand umschlang ihren Hals.
    »Ihr seid schwer«, sagte die Frau und schüttelte sie ab.
    Die meisten fielen zu Boden, hängten sich aber gleich wieder an sie. Einige klebten richtiggehend an ihr, so energisch sie sie auch beiseite schob. Es nahm kein Ende.
    »Ich bin daran gewöhnt.«
    Besonders ein Kind umklammerte hartnäckig mit beiden Armen und Beinen ihre Knie, so dass ihre Waden sich langsam blau färbten.
    »Ts, schon wieder.« Die Frau schnalzte mit der Zunge. »Meine Beine sterben ab, weil das Blut nicht zirkulieren kann. Aber ich bin es ja gewöhnt. Immer das Gleiche.«
    Allmählich fühlte ich mich sehr unbehaglich.
    Hoffentlich kam bald der Bus.
    Ich sah auf die Uhr. Der Sekundenzeiger bewegte sich, krabbelte wie ein Lebewesen über das Zifferblatt.
    Mir reicht es, dachte ich und schloss die Augen. eigentlich sollte dieser Gedanke genügen, um mich wieder nach Manazuru

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