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Am Meer ist es wärmer

Titel: Am Meer ist es wärmer
Autoren: Hiromi Kawakami
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die ihm nicht gefiel?
    »Nein, die Sache mit dem verwischten Liebesbrief fand ich sehr schön«, sagte Seiji und musterte mich. Noch im Pyjama setzte ich mich neben ihn auf das Sofa. Die Frau folgte mir, aber sie war nicht mehr viel mehr als eine Erinnerung. Bald würde sie mich ganz verlassen.
    »Hoffentlich werden wir uns irgendwann Wiedersehen«, flüsterte ich Seiji ins Ohr.
    Er lächelte.
    »Irgendwann, in ferner Zukunft«, wiederholte ich.
    Die Frau verschwand. Sie würde wohl nie wieder erscheinen. Durch das Hotelfenster sah ich einen Ausschnitt der Inlandsee. Das Wasser glitzerte.
    Etwas von meiner Traurigkeit kehrte zurück. Obwohl das Morgenlicht sie eigentlich zerstreut haben sollte.
    Doch auch sie war nur noch eine Erinnerung. Ich lächelte zurück und schloss die Augen.
    Unsere Lippen trafen sich für einen Moment.
    Dann zogen wir beide sie langsam zurück. Die Teile, die sich berührt hatten, trockneten. Es fühlte sich an, wie wenn man ein Stück Schorf gewaltsam entfernt hat. Zuerst bleibt die Stelle feucht, doch irgendwann trocknet sie, ohne dass man es merkt.
    Kaum hatten sich unsere Lippen voneinander gelöst, war ich bereits wieder in Tokio. Obwohl ich mich noch gut daran erinnern konnte, wie wir ins Flugzeug gestiegen waren und uns in Shinagawa noch einmal zum Abschied zugewunken hatten, wusste ich nicht mehr, was dazwischen geschehen war.
    Momo blätterte in ihren Lehrbüchern für das neue Schuljahr und schrieb ihren Namen hinein. Momo Yanagimoto , schrieb sie in Silbenschrift.
    »Warum schreibst du deinen Namen so?«, fragte ich.
    »In chinesischen Zeichen macht er sich nicht gut!«, erwiderte sie lachend.
    »Ich möchte Rei für tot erklären lassen«, entfuhr es mir spontan.
    Bisher hatte ich mich nie dazu entschließen können. Das Verschwinden von Rei war wie eine Wunde, die nie trocknen wollte.
    »Ach?« Meine Mutter schaute auf. Momo begann mit gesenktem Kopf ihren Namen auf ihre Hefte zu schreiben.
    »Wie war es denn bei Yanagimotos?«, fragte meine Mutter.
    »Sehr still.«
    Plötzlich fiel ihr Kopf nach vorn, und sie schaute nicht wieder auf. Erstaunt sah ich sie an. Sie war eingenickt.
    »Das macht sie in letzter Zeit öfter«, erklärte Momo.
    Meine Mutter saß weiter aufrecht auf dem Stuhl, nur ihr Kopf hing nach vom, und ihre Augen waren geschlossen.
    »Wach auf!« Ich schüttelte sie ein bisschen.
    »Lass sie schlafen. Sie wacht gleich von selbst wieder auf«, sagte Momo.
    Meine Mutter blinzelte und wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht, als ob sie ein Insekt verscheuchte. Dann schlug sie die Augen auf.
    »Alles in Ordnung?«
    »Was denn?«, fragte sie etwas verlegen.
    Die Sonne verbarg sich, kehrte aber gleich wieder zurück. Sie schien durch das Fenster und beleuchtete unsere Gesichter und Schultern. Bückte sich eine von uns, traf das Licht genau auf ihre Stirn, und es sah aus wie eine Krone. Drei Frauen in unterschiedlichem Alter, die die gleiche Krone trugen und in denen das gleiche Blut floss.
    Die Formalitäten waren weniger kompliziert als gedacht. Zunächst holte ich auf dem Polizeirevier die Formulare und das Familienbuch, füllte einen Antrag aus, legte ihn beim Amtsgericht vor und bezahlte ein paar Tausend Yen.
    »Wir machen einen öffentlichen Aushang und warten sechs Monate«, erklärte man mir. Mir fiel ein, dass Frauen nach einer Scheidung sechs Monate lang nicht wieder heiraten dürfen. Die Zahl sechs erschien mir seltsam.
    Als ich wieder zu Hause war, fragte meine Mutter mich, wie es gegangen sei. Ich erzählte es ihr wie einen Film, den ich gerade gesehen hatte.
    »Mehr nicht?«, fragte sie mit etwas kindlicher Miene.
    Obwohl die Sonne bald untergehen würde, war es noch ziemlich hell. Die Kirschblüte war vorüber, und aus allen Zweigen spross frisches Grün. Um diese Jahreszeit sei man besonders wetterfühlig, murmelte meine Mutter. Sie rieb sich die mittlerweile völlig ergrauten Schläfen.
    »Wo ist Momo?«, fragte sie, als wäre es ihr ganz plötzlich eingefallen.
    »In der Schule«, antwortete ich. Wieder rieb sich meine Mutter die Schläfen. »Bitte, Mutter, stirb nicht«, dachte ich inbrünstig, auch wenn ich wusste, dass es zwecklos war. War unser Haus eigentlich schon immer so lichtdurchflutet gewesen? Das ganze Wohnzimmer strahlte in hellem Glanz.
    Momo hatte einen Strauß Löwenzahn gepflückt und in ein Glas gestellt. Er stand in voller Blüte und leuchtete. Alles funkelte nur so: der Stuhl, der dicht am Tisch stand, da seine Besitzerin unterwegs
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