Am Meer ist es wärmer
nach dem Bad und auch wenn wir auf der Terrasse frische Luft schnappten. Sie schien mir etwas sagen zu wollen.
Ja, vielleicht, antwortete die Frau. Ihre Gestalt wirkte mal schwächer, mal dichter, war nie konstant. Vor allem hatte sie keine feste Form. Ich wusste nur, dass sie bei mir war. Ich spürte, dass sie Garnelen aß oder schnaubte. Das ging so weit, dass ich zugestimmt hätte, wenn jemand gesagt hätte, sie existiere nur in meiner Einbildung.
Ist Rei noch am Leben? Woher kennst du ihn?
Habe ich vergessen.
Die Antworten der Frau waren unbefriedigend. In Manazuru war ihre Präsenz dichter, dennoch schien es zwecklos, sie weiter zu befragen. Ich bemühte mich einzuschlafen, aber die Frau störte mich. Ich wollte, dass sie verschwand.
Geh weg.
Wohin denn?
Wo du hingehörst.
Ich weiß nicht, wohin ich gehöre.
Die Frau war in Schwierigkeiten. Aber was konnte ich dagegen tun? Mit dem Fuß schleuderte ich die Decke beiseite. Die Klimaanlage war auf niedrige Temperatur eingestellt, es konnte also nicht zu warm sein, dennoch glühte ich plötzlich. Eine eigenartige Situation. Noch nie hatte ich mich mit meiner Verfolgerin unterhalten.
Wie belanglos das doch alles war. Die Frau verschwand.
Auch was mich verfolgte, war belanglos. Völlig unbedeutend. Ob es da war oder nicht, machte keinen Unterschied. Ich schwankte, wie eine Waage, von der man ein Gewicht entfernt hat. Von welcher Seite konnte ich an dem Schwanken nicht erkennen. Ich spürte nur, wie es sich allmählich legte. Es war fast ein wenig traurig.
»Mama, sei guter Dinge!«, sagte Momo.
Das Morgenlicht war grell. Wir nahmen unser japanisches Frühstück im gleichen Saal ein wie das Abendessen. Das Hotel war unerwartet gut besucht.
Am Abend zuvor waren nur zwei Tische besetzt gewesen, aber jetzt war alles voll.
Es gab getrocknete Rossmakrele, Misosuppe mit Rettich und frittierte Tofutaschen, dazu gekochten Spinat mit heißem Tofu. »Ich bin doch guter Dinge«, sagte ich. Momo lachte. »Aber du hast kaum was gegessen.«
Ich hatte weder die Makrele noch den heißen Tofu angerührt. Da Momo einen hungrigen Blick darauf warf, schob ich ihr die Speisen zu. »Ich habe Appetit, ich bin im Wachstum«, erklärte sie und nahm sich noch eine Portion Reis.
Morgen- und Abendlicht sind verschieden. »Man sollte einfach noch mal von vorn anfangen«, sagte ich leise. »Warum denn?«, fragte Momo.
»Hast du am Morgen nicht auch mitunter dieses Gefühl?«
»Es geht dir also doch nicht gut. Denkst du an Vater?«
Geschickt zerlegte Momo die Makrele. Nur noch die Gräten und der Kopf, aus dem sie säuberlich die Augen herauspickte, waren übrig. Auch Rei hatte gern Fisch gegessen. Ich wollte morgens nicht an ihn denken. Sollte ich versuchen, an Seiji zu denken? Das wäre unfair ihm gegenüber. Ihn als Lückenbüßer zu benutzen.
»Momo, gibt es einen Jungen, den du magst?«
»Ja und nein.«
»Wie ist er denn?«
»Ganz normal.«
Ich hatte mich auf eine mürrische Antwort gefasst gemacht, aber Momo war gut gelaunt. Das war ansteckend, und meine Stimmung besserte sich.
»Was magst du an ihm?«
»Er ist irgendwie nett.«
Ich musste lachen, und Momo ärgerte sich. Das war zu viel. Aber das Wort »nett« amüsierte mich. Ich fand sie süß und strich ihr leicht über die Wange. Sie wurde blass und machte eine heftige, abrupte Bewegung mit dem Kopf, wie um meine Hand abzuschütteln. Sie wollte Abstand halten, Abstand zu mir.
Schwierig, dachte ich, und stand auf. Auf dem Weg in unser Zimmer ging Momo hinter mir. Zwischen uns war die Frau.
»Na, wie war’s in Manazuru?«, fragte meine Mutter.
»In Atami waren wir auch«, erklärte Momo. Wir hatten beim Verlassen des Resorts unsere Pläne geändert und einen Abstecher nach Atami unternommen. Ich dachte, mit Momo würde ich mich in Atami wohler fühlen, wo die Wege weniger steil waren und es mehr Menschen und Souvenirstände gab.
Als wir von der Bahnhofsmeile, an der sich die Souvenirläden drängten, an dem ins Meer mündenden Fluss entlangschlenderten, entdeckten wir eine kleine Konditorei. Am anderen Ufer gab es einen Schießstand. Wahrscheinlich war er nicht mehr in Betrieb, er wirkte still und war verrammelt. Die Konditorei war frisch renoviert, bestand aber angeblich bereits seit mehreren Jahrzehnten.
»Die Kakao-Torte war so was von lecker«, erzählte Momo meiner Mutter. »Dazu habe ich warme Milch getrunken.« In der Konditorei war mir der Duft aufgefallen, den Momos Nacken verströmte. Ein süßer
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