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Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)

Titel: Little Brother - Homeland: Roman (Heyne fliegt) (German Edition)
Autoren: Cory Doctorow
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    Beim Burning Man war ich gleichzeitig einer der meistfotografierten und am wenigsten überwachten Menschen der Welt.
    Ich zog meinen Burnus höher, sodass er Mund und Nase bedeckte, und steckte ihn unter den Rand meiner großen, verkratzten Schutzbrille. Die Sonne stand hoch am Himmel, es waren fast vierzig Grad, und durch das bestickte Baumwolltuch war die Hitze noch drückender. Doch der Wind hatte gerade aufgefrischt und wirbelte eine Menge Staub in der Playa auf – einer Salztonebene voll feinem Gipssand, trügerisch pulverig und weich, aber alkalisch genug, dass einem die Augen brannten und die Haut völlig austrocknete. Nach zwei Tagen in der Wüste hatte ich gelernt, dass Schwitzen immer noch besser war, als zu ersticken.
    So ziemlich jeder auf dem Festival hatte irgendeine Kamera dabei – natürlich vor allem Smartphones, aber auch große Spiegelreflexapparate, altmodische Rollfilmkameras und sogar eine uralte Plattenkamera, deren Besitzer sich vor dem Staub unter ein riesiges schwarzes Tuch geflüchtet hatte. Allein beim Gedanken daran wurde mir heiß. Alles hier war staubgeschützt; am besten, man steckte seine Sachen einfach in einen Schnellverschlussbeutel, so wie ich das auch mit meinem Handy getan hatte. Langsam drehte ich mich um die eigene Achse, versuchte, ein Panoramabild aufzunehmen, und merkte, dass der Mann, der gerade hinter mir vorbeilief, eine Schnur hielt, die zu einem großen Heliumballon gut hundert Meter über ihm führte. Am Ballon hatte er eine Videokamera montiert. Außerdem war der Mann völlig nackt.
    Na ja, nicht ganz – er trug schon noch Schuhe. Das war verständlich, denn der alkalische Staub hier konnte wirklich fies sein. Die Füße werden so trocken, dass die Haut ganz rissig wird und sogar abblättert. Alle hier waren sich einig, dass so was richtig scheiße war.
    Burning Man ist ein Festival, das jedes Jahr im September, am Wochenende vor dem Labor Day mitten in der Black Rock Desert in Nevada stattfindet. Dann versammeln sich fünfzigtausend Menschen in dieser unglaublich heißen, staubigen Landschaft und bauen gemeinsam eine Stadt: Black Rock City. Jeder in der Stadt ist automatisch auch Teilnehmer. »Zuschauer« ist gleichbedeutend mit »Gaffer« und ein übles Schimpfwort in Black Rock City. Von jedem hier wird erwartet, dass er irgendwas macht und den anderen die verdiente Aufmerksamkeit schenkt (daher auch die vielen Kameras). Beim Burning Man ist jeder Teil der Show.
    Ich war zwar nicht nackt, hatte mir heute früh aber mit farbigem Zinkstift ein paar aufwendige Mandalas auf die unbedeckten Stellen meiner Haut malen lassen. Die Künstlerin – eine ältere Frau in einem Batik-Brautkleid, die meine Mutter hätte sein können – hatte wirklich gute Arbeit geleistet. Das ist noch so was Typisches beim Burning Man: Alles läuft auf der Basis von Geschenken, sodass man ständig wildfremden Leuten kleine Gefallen anbietet und sich im Gegenzug wirklich wohl in der Stadt fühlt.
    Ich erkannte mich selbst kaum wieder, nachdem die Malerin mit mir fertig war, und auf meinem Weg nach Neun Uhr waren haufenweise Handys auf mich gerichtet.
    Black Rock City ist wie eine richtige Stadt: Es gibt sanitäre Einrichtungen (Toilettenhäuschen mit dreckigen Gedichten, die einen ermahnen, ja nichts außer Klopapier reinzuwerfen), Strom und Internet (auf Sechs Uhr, im Zentrum der ringförmigen Stadt), so was Ähnliches wie eine Regierung (die Veranstalter), mehrere kleine Zeitungen (von denen jede bessere Arbeit leistet als die großen Blätter da draußen!), ein Dutzend Radiosender, eine freiwillige Polizei (die Black Rock Rangers, die auf dem Gelände in Tutus, Glitzerfarbe und Hühnerkostümen patrouillieren) und zahllose Annehmlichkeiten der modernen Welt.
    Es gibt aber keine allgemeine Überwachung: keine Sicherheitskameras, keine Straßensperren – abgesehen vom Einlass am Haupttor, wo die Eintrittskarten eingesammelt werden – , keine Ausweiskontrollen, keine Durchsuchungen, keine Kontrolle auf Schritt und Tritt durch RFID -Chips oder den eigenen Netzbetreiber. Allerdings gibt es dafür auch kein Handynetz. Die einzigen motorisierten Fahrzeuge sind die vorab registrierten Mutantenautos, die verrückten Art Cars, sodass auch die Überwachung via Nummernschild oder elektronischem Mautsystem wegfällt. Das WLAN ist unverschlüsselt, und der Datenverkehr wird nicht protokolliert. Die Fotos, die man macht, dürfen nur für private Zwecke verwendet werden, und es gilt einfach als
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