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Am Grund des Sees

Titel: Am Grund des Sees
Autoren: Andrea Fazioli
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anders.«
    »Hoffentlich«, schloss Chico und stand auf.
    »Ich bin ganz sicher!« Tommaso Porta drückte ihm die Hand. »Gar kein Zweifel.«
     
    Auch wenn der Kanton Tessin laut offizieller Bezeichnung eine Republik ist, wäre es falsch, ihn als einheitliches Gebilde zu betrachten. Zwar bezeichneten sich die Tessiner vor zwei Jahrhunderten als ein unteilbares Volk von Brüdern, in der Realität aber sieht sich der Bewohner von Airolo, der die Hockeymannschaft von Ambrì unterstützt und einen kantigen Dialekt spricht, durchaus nicht als Bruder eines Luganers - Fan des reicheren Hockey-Clubs Lugano und aufgebrezelt wie ein Mailänder … Der Monte Ceneri wird immer die Trennmauer bleiben.
    Dann gibt es Leute wie Elia Contini, die im nördlichen Kantonsteil Sopraceneri wohnen und im Bezirk Lugano arbeiten. Jeden Abend kehrte der Detektiv in die Abgeschiedenheit seiner Berge zurück, tagsüber aber empfing er seine Klienten im mediterranen Paradiso, in einem ehemaligen Fischerschuppen mit Blick auf den Luganersee und den Monte Brè. Abgesehen davon, war Contini keiner von denen, die gefragt wurden, ob sie ein Ambrì- oder ein Lugano-Fan seien.
    Contini, der an seinem Bericht über Elisa Rovellis Seitensprung saß, stand vom Schreibtisch auf und trat an das breite Fenster, das auf den See hinausging. Das graue Wasser sah aus wie eine endlose, vom Wind glatt geschliffene Steinplatte, und die Wolkendecke, hinter der die Sonne verschwand, verstärkte seine schlechte Laune.
    Er setzte sich wieder. Der Rohrstuhl vor seinem Schreibtisch gab ein klagendes Knarzen von sich, das genau seiner Stimmung entsprach. Im Büro herrschte das gewohnte Chaos. Auf dem Tisch hatte er zwei Kakteen, seine Kamera, ein Miniaturfloß aus Holz, etliche Bleistifte, einen Computer und einen löchrigen Strohhut, der seit dem letzten Sommer hier lag.
    Es war halb eins. Contini beschloss, sein Büro abzusperren und sich ein Mittagessen in Pieros Restaurant zu gönnen. Er machte sich auf den Weg ins Zentrum von Lugano, und eine halbe Stunde später, als er an einem Tisch mit kariertem Tischtuch saß, ließ ihn ein Teller mit dampfendem Risotto Elisa Rovelli und ihre heimliche Liebe für eine Weile vergessen.
    Erst als er sich nach dem Essen eine Zigarette anzündete, ging ihm auf, dass es nicht die Beschattung war, die ihn aufwühlte - es war schließlich nicht die erste und ganz sicher nicht die letzte ihrer Art -, sondern die Begegnung mit Don Giacomo.
    Er war es nicht gewohnt, seine Vergangenheit hinterfragen zu lassen. Vielleicht war er deshalb Detektiv geworden: Lieber war er derjenige, der die Fragen stellte, der ins Leben anderer Leute einbrach und dabei die Gewissheit hatte, dass er es früher oder später genauso plötzlich, wenn auch vielleicht mit kleinem Bedauern, für immer wieder verließ. Jetzt indes zeichnete sich ein Geheimnis ab, das ihn direkt anging. Seit Jahren hatte er nicht mehr an seinen Vater gedacht, und während er seine Zigarette ausdrückte, hatte er unwillkürlich die Hoffnung, dass der Stausee nicht abgelassen würde, dass die alten Häuser blieben, wo sie waren: unsichtbar auf dem Grund des Sees und in der Erinnerung.
    Am Nachmittag brachte er nichts Sinnvolles mehr zustande. Gegen vier kehrte er, immer noch grüblerisch, nach Corvesco zurück.
    Auf der Autobahn hörte er eine Jacques-Brel-Kassette, die ihm endlich die trüben Gedanken vertrieb. Avec le vent du nord qui vient s’écarteler … und diesen Wind über dem See, der ihn den ganzen Nachmittag nervös gemacht hatte, empfand er jetzt fast als wohltuend. Avec le vent du nord, écoutez-le craquer le plat pays qui est le mien …
    Als er die Straße ins Dorf hinauffuhr, nahm sich Contini vor, den Abend seinen Füchsen zu widmen: Als Detektiv war er nämlich auch ein ganz passabler Amateurfotograf, und sein Spezialgebiet waren Füchse. In seiner Nachbarschaft lebten zwei, drei Exemplare, und abends ging Contini oft mit seiner Kamera in die Wälder hinaus. Einmal im Jahr klebte er seine Fotos in ein Album mit festem Einband und dem Etikett FÜCHSE. Im Januar begann die Paarungszeit, und man musste die Gelegenheit nutzen, wenn die Rüden weniger vorsichtig waren als sonst. Eingepackt in seinen Mantel mit Pelzkragen, die Mütze tief über die Ohren gezogen, waren ihm einige seiner besten Fotos im Januar gelungen.
    Der Detektiv wohnte ein wenig außerhalb der Ortschaft Corvesco in einem Haus auf einem Hügel, einem alten Haus mit dicken Mauern, grünen Fensterläden
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