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Am Grund des Sees

Titel: Am Grund des Sees
Autoren: Andrea Fazioli
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verschlägt Sie denn nach Mendrisio?«, fragte er den Pfarrer. »Ich dachte, Sie sind noch im Bleniotal?«
    »Nein, ich bin ans Selige-Jungfrau-Hospital versetzt worden. Ich bin ja nun nicht mehr der Jüngste … je näher ich also einem Krankenhaus bin, desto besser ist es!«
    Eine Plaudertasche war Don Giacomo schon immer gewesen. Älter war er geworden, aber davon abgesehen schien er derselbe Geistliche, der sich in den achtziger Jahren der Seelen von Malvaglia angenommen hatte. Er trug einen Mantel, der eigentlich eine getarnte Soutane war: so schwarz und priesterlich, dass er seinen Träger auf den ersten Blick als das offenbarte, was er war.
    »Weißt du, dass ich erst neulich an dich gedacht habe?«, fragte der Priester, und seine Äuglein funkelten hinter den Brillengläsern. »Du hast doch sicher den Ärger um den Ausbau des Stausees mitbekommen?«
    »Nein, wieso, um was geht’s?«
    »Na ja, sie wollen doch jetzt auch das Nordufer fluten, aber es regt sich Protest.«
    Contini horchte auf.
    »Und sollten sie den See vorher trockenlegen«, fuhr der alte Priester fort, »werden wohl auch die alten Häuser wieder auftauchen, unter anderem eures. Und wer weiß, was aus der Christophoruskapelle geworden ist - nach so vielen Jahren Feuchtigkeit!«
    Continis Miene verfinsterte sich. Er hielt sich nicht gern mit der Vergangenheit auf. Wer in einer kleinen Realität lebt, muss sich vor der Erinnerung zu schützen wissen. Die Schweiz, im Herzen Europas, am Kreuzungspunkt aller Geschichten und aller Intrigen gelegen, ist von ihrer Fläche her wohl ein kleines Land, aber ihr Keller böser Erinnerungen ist tief.
    »Davon weiß ich nichts«, sagte der Detektiv und winkte dem Kellner. »Was nehmen Sie?«
    »Wie viel Uhr ist es denn? Elf - na gut, dann ist es schon Zeit für einen Aperitif. Einen Wermut, würde ich sagen …«
    »Für mich ebenfalls. Sie sagten, es gibt Proteste. Wieso denn? Am Nordufer stehen doch keine Häuser, so viel ich weiß?«
    »Nein, aber das Gelände dort ist zum Teil Bauland.«
    Contini war seit Jahren nicht in Malvaglia gewesen, er wollte die alten Geschichten nicht wieder aufwärmen: die neuen waren schon mühsam genug. Doch während er dem alten Pfarrer zuhörte, drängte sich, ob er wollte oder nicht, die Gestalt seines Vaters in seine Gedanken.
    »Klar, von den früheren Eigentümern lebt fast keiner mehr«, sagte Don Giacomo, »aber was damals passiert ist, haben alle noch in sehr lebendiger Erinnerung, und wenn jetzt …«
    »Aber es ist damals nichts passiert, was soll denn passiert sein«, fiel ihm Contini hastig ins Wort.
    Der Pfarrer sah ihn verblüfft an. Aber er sagte nichts, hob nur die Brauen, schob seine Brille zurecht und wartete.
    »Ich weiß schon, was Sie meinen«, sagte Contini, leise, denn nun brachte der Kellner die zwei Gläser Wermut. »Aber dass mein Vater und Martignoni damals verschwunden sind, hat mit dem Staudamm nichts zu tun.«
    »Tja.« Mit einer Kopfbewegung, die an einen Spatz auf einem Brunnenrand erinnerte, nahm der Priester einen Schluck. »Davon weiß ich freilich nichts …«
    Der Detektiv schüttelte den Kopf.
    »Genau. Niemand weiß das, und was diese Legenden angeht …«
    Don Giacomo hatte seine Brille abgenommen und riss die kurzsichtigen Äuglein auf. Jeder kannte die alten Gerüchte, und keiner redete offen darüber.
    »Jedenfalls«, schloss der Detektiv, »reicht es mir mit diesen ewigen Andeutungen. Wenn sie den See ablaufen lassen, wäre das die Gelegenheit, uns ein für alle Mal Klarheit zu verschaffen.«
    »Komisch.« Mit einem kleinen Lächeln setzte Don Giacomo die Brille wieder auf. »Du willst auf einmal Klarheit, Leute protestieren, ich treffe dich ganz zufällig in Mendrisio …«
    »Don Giacomo! Jetzt sagen Sie mir nicht, dass Sie darin ein Zeichen sehen …«
    »Ich weiß nicht.« Der Priester lächelte nicht mehr. »Ich weiß nicht. Aber manchmal bete ich noch für deinen Vater.«
     
    Chico Malfanti stieg vorsichtig die Treppe neben dem Kino hinunter. Erst tags zuvor hatte er sich auf einer vereisten Stufe beinahe den Hals gebrochen. Diesmal war er auf der Hut, setzte die Füße auf jeder Stufe quer auf und erreichte sein Büro ohne misslichen Zwischenfall.
    Die Anwaltskanzlei »Calgari & Partner« präsentierte sich der Welt mittels eines Messingschilds, das zwischen dem eines Kinderarztes und dem eines Zahnarztes hing. Signor Calgari pflegte zu scherzen, er nehme nur volljährige Klienten mit gesunden Zähnen, um seinen Nachbarn
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