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Am Grund des Sees

Titel: Am Grund des Sees
Autoren: Andrea Fazioli
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und Veranda mit Blick auf das Tal.
    Zu Hause zündete er im Wohnzimmer als Erstes ein Feuer im Kamin an und ließ sich dann in die daneben aufgespannte Hängematte fallen. Wie sein Büro war auch sein Zuhause mit den abwegigsten Gegenständen vollgestopft, die von einem mächtigen Orang-Utan aus Keramik bis hin zu einem violetten Fahrradrahmen reichten, in einer Ecke hatte er seine Kakteensammlung untergebracht. Er war beinahe eingenickt, als ihn die Türklingel aufschreckte.
    Mit einem Ruck sprang er auf.
    Francesca. Er hatte vergessen, dass sie vor der Abfahrt nach Mailand noch einmal vorbeischauen wollte. Er fuhr sich mit einer Hand durch die Haare und ging zur Tür.
    »Ciao, Contini«, begrüßte sie ihn. »Ich wette, du hast mich vergessen!«
    »Aber nein, bestimmt nicht …«
    »Lüg nicht!«, sagte sie und küsste ihn auf den Mund.
    Contini spürte die Kälte des Winterabends auf ihrer Haut. Er nahm sie bei der Hand und zog sie ins Haus. Er hatte Francesca Besson bei der Affäre um das Ruggeri-Collier kennengelernt, einer Verbrechensserie, die vor einiger Zeit die ganze Schweiz in Atem gehalten hatte und sogar in der italienischen Presse auf ein gewisses Interesse gestoßen war. Zwischen ihnen hatte sich eine Beziehung entwickelt und mit Höhen und Tiefen die folgenden Monate überdauert. Francesca war in den letzten Zügen ihrer Dissertation über Giorgio Bassani und hatte am nächsten Tag eine wichtige Unterredung mit ihrem Doktorvater an der Katholischen Universität Mailand vor sich.
    »Na, bist du vorbereitet?«, fragte Contini, während er ihr aus dem Mantel half.
    »Mehr oder weniger«, antwortete sie mit skeptischer Miene. »Ich hoffe nur, er reitet nicht auf der Bibliografie herum.«
    Francesca trug einen langen Rock und einen weißen Pullover mit Rollkragen. Kaum hatte sie das Wohnzimmer betreten, schob sie sich die Ärmel hinauf. Der plötzliche Temperaturwechsel trieb ihr die Röte ins Gesicht. »Möchtest du was trinken?«, fragte Contini.
    »Danke«, sagte Francesca, nahm einen Hut von einem der Wohnzimmersessel und ließ sich mit einem Seufzer hineinfallen. »Vielleicht einen Tee, falls du so was hast.«
    »Müsste da sein.«
    »Uff.« Francesca schüttelte ihr langes schwarzes Haar. »Ich bin wirklich todmüde. Und du, was machst du so? Hast du einen neuen Fall?«
    »Nicht wirklich«, antwortete Contini aus der Küche.
    »Das ist wieder mal eine typische Contini-Nichtaussage«, gab sie zurück. »Was heißt ›nicht wirklich‹?«
    Contini sagte nichts mehr. Francesca stand auf und trat in die Küchentür.
    »Und?«
    »Es ist nicht wirklich ein neuer Fall«, brummte er, während er den Kessel unter den Wasserhahn hielt. »Heute Vormittag hab ich zufällig den ehemaligen Pfarrer von Malvaglia getroffen und musste dran denken, wie ich als Kind mit meinem Vater dort gewohnt habe.«
    Francesca wurde hellhörig.
    »Davon hast du nie was erzählt.«
    Contini schwieg. »Jedenfalls«, sagte er nach einer ganzen Weile, »war ich noch keine fünfzehn, als mein Vater verschwand. Ich weiß nicht mehr viel.«
    »Du kommst mir aber nicht vor wie einer, der leicht was vergisst.«
    »Nein, leider. Aber in dem Fall gibt es nichts zu erinnern. Wir hatten ein Haus in einem kleinen Ortsteil von Malvaglia, in der Nähe des Staudamms. Wir mussten ausziehen, weil sie den See erweitern wollten, und kamen hierher, nach Corvesco.«
    »Und dein Vater, wohin ist er verschwunden?«
    »Weiß ich nicht. Aber ich glaub nicht, dass dich diese alten Geschichten interessieren …«
    Francesca sah ihn eindringlich an.
    »Verstehe: Sie interessieren dich.«
    »Richtig!«
    »Kurz bevor das Staubecken vollgelaufen war, ist mein Vater verschwunden. Er ist noch mal zum alten Haus zurück, um die letzten Sachen zu holen, daran erinnere ich mich. Und ich erinnere mich, wie ich mit dem Abendessen auf ihn gewartet habe … Aber danach hat ihn nie mehr jemand gesehen.«
    Wieder entstand eine Pause.
    »Und dann?«, fragte Francesca, nachdem er nicht weitersprach.
    »Nichts. Man weiß nicht, was aus ihm geworden ist.«
    In dem Moment begann der Kessel zu pfeifen.
    »Der Tee«, sagte Contini. »Willst du ihn mit …«
    »Aber hat ihn denn keiner gesucht?«
    Der Detektiv seufzte.
    »Gehen wir rüber ins Wohnzimmer, ich erzähl dir alles.«
    Als sie sich wieder gesetzt hatten, fragte Francesca: »Wie kann es sein, dass ein Mensch von einem Tag auf den anderen einfach verschwindet?«
    »Es kommt vor. In meinem Beruf kann ich ein Lied davon
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