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Am Grund des Sees

Titel: Am Grund des Sees
Autoren: Andrea Fazioli
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zu vereinigen, sind aber unentschlossen. Das Tessin, pflegte Rechtsanwalt Calgari zu sagen, ist eines Abends als Dorf eingeschlafen und am anderen Morgen als Stadt wieder aufgewacht: eine einzige große Stadt aus verschiedenen, aneinandergrenzenden Gemeinden. Tatsächlich legte Chico zwischen einem Dorf und dem anderen ziemlich viele Kilometer zurück, bergauf und bergab. In einer Metropole wären das »Fahrten«. In der italienischen Schweiz nennt man es Reisen.
    Zwischen Garagen, Nachtlokalen, Statuen- und Gartenmöbel-Lagerverkaufsstellen und dem einen oder anderen gelb oder blau gestrichenen Apartmentblock führte die Straße geradeaus, entlang der Bahnstrecke.
    Chicos Stimmung war gut. Wieder lag ein Arbeitstag hinter ihm, und die Fahrt auf einer menschenleeren Straße, während aus den Lautsprechern Come mai schmetterte, behagte ihm. Am Ortseingang von Lodrino fiel ihm links sofort das Firmenschild des Autohauses Barenco auf: eine Leuchtschrift, die des amerikanischen Hinterlands würdig gewesen wäre. Der Junganwalt hielt neben der Zapfsäule, die zur Werkstatt gehörte. In dem Moment, als er aussteigen wollte, klopfte jemand an die Fensterscheibe der Beifahrertür.
    »Salve!« Es war Tommaso Porta. »Danke, dass du extra herkommst!«
    »Keine Ursache«, antwortete Chico. »Ich bringe die Stellungnahme meines Chefs.«
    Porta setzte sich zu ihm ins Auto.
    »Das Büro ist zu, Signor Barenco ist schon nach Haus gegangen. Aber wir können hier im Auto reden, wenn’s dir nichts ausmacht.«
    »Wenn es dir nichts ausmacht …«, antwortete Chico, der sich mit der Duzerei abgefunden hatte.
    Porta strahlte.
    »Dann lass sehen!«, rief er. »Seid ihr kampfeslustig?«
    »Ähm, also«, begann Chico hüstelnd. »Um die Wahrheit zu sagen: Die Angelegenheit ist komplizierter, als es den Anschein hat.«
    »Kompliziert?«
    »Also die Sache ist die, dass mein Chef, Rechtsanwalt Calgari, nicht sicher ist, ob der Heilige die Kerze wert ist …«
    »Welcher Heilige? Welche Kerze?«
    »Er meint, es steht nicht dafür. Sich gegen die Elektrizitätsgesellschaft und gegen den Kanton zu stellen, gegen ein Projekt von öffentlichem Nutzen, nur um ein paar Wiesen und Ställe zu retten …«
    »Ställe?«
    Chico war ratlos. Porta machte nicht den Eindruck, als sei er in der Lage, dem Gespräch zu folgen. Er versuchte es mit einem anderen Erklärungsansatz und kehrte dabei zur Höflichkeitsform zurück. »Schauen Sie, Signor Porta, es ist doch so, dass eine Klage, die sich allein auf mehr oder minder vorgeschobene ökologische Argumente …«
    »Vorgeschoben?«
    »… und vielleicht auf den einen oder anderen Verfahrensfehler stützt, Gefahr läuft, abgewiesen zu werden. Mein Chef rät Ihnen deshalb, auf den Rechtsweg zu verzichten, zumal …«
    An dieser Stelle rastete Porta aus. Er stürzte sich auf den Anwalt und packte ihn am Kragen, und Chico hörte ihn schnaufen wie ein verletztes Tier, blickte in seine vor Wut schmal gewordenen Augen.
    »O nein, ganz sicher nicht, kommt überhaupt nicht infrage, der Herr Rechtsanwalt Calgari wird sich hier nicht vornehm heraushalten!«
    »Aber …«, versuchte Chico einzuwenden.
    »Vor zwanzig Jahren hat er’s doch schon mal versucht, oder? Wieso will er diesmal nicht?«
    »Jetzt reißen Sie sich bitte zusammen, Porta, und lassen Sie mich los!«
    Aber Tommaso Porta ließ ihn nicht los, im Gegenteil: Jetzt quetschte er Chico gegen die Lehne. Das Fürchterlichste an dieser unmöglichen Situation war, dass Porta nicht einmal die Beherrschung verloren zu haben schien, sondern in ruhigem und festem Ton sprach: Seine Gewalttätigkeit wirkte eher wie das Ergebnis rationaler Überlegung als eines Affekts.
    »Lassen Sie mich los! Ist Ihnen eigentlich klar, dass …«
    »Mir ist nur eines klar: dass du jetzt zu deinem Boss gehst und dieses Mandat persönlich übernimmst.«
    »Aber er will es nicht!«
    »Überzeuge ihn. Lass dir was einfallen. Ich will kämpfen, verstehst du, und ihr seid die letzte Möglichkeit, um eine Tragödie zu verhindern!«
    Der Typ ist wahnsinnig, dachte Chico.
    »Schauen Sie, beruhigen Sie sich doch, gehen Sie vielleicht zu einem Arzt - vielleicht hat Sie der Stress, die Anspannung … und …«
    Chico verstummte jäh.
    Im Halbdunkel des Wagens blitzte etwas auf, eine Messerklinge, die einen Lichtschein einfing. Und im nächsten Moment auf ihn zuschnellte und ihn mit der Spitze in die Wange traf.
    »Du tust, was ich dir sage. Klar?«
    »Ich …«
    »Ist das klar?«
    »Hören Sie,
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