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Am Grund des Sees

Titel: Am Grund des Sees
Autoren: Andrea Fazioli
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Hand und legte sie zurück.
    »Was soll das?«, fragte sie leise.
    Chico verwünschte sich. Warum musste er immer so tollpatschig sein? Mit brennenden Wangen stand er auf.
    »Entschuldige«, stammelte er, »ich … Also ich geh lieber wieder zurück …«
    »Hey!«
    Auch sie war aufgestanden und musterte ihn mit hartem Blick. Jesus, dachte Chico, jetzt haut sie mir eine rein. Und wirklich hob sie eine Hand, aber statt ihn zu ohrfeigen, legte sie ihm die Hand in den Nacken und küsste ihn.
    Chico riss die Augen auf. Dann schloss er sie. Er spürte, mit einem Anflug von Kühle, Teclas Zungenspitze, und war im Begriff, den Kuss zu erwidern, doch Tecla wich unvermittelt zurück und sagte: »Träum weiter, Herr Anwalt!«
    Chico riss abermals die Augen auf.
    »Wie, sagtest du vorhin, bist du in diese Villa eingebrochen?« Sie starrte ihn an. »Indem du dich im ersten Stock durchs Fenster geschmissen hast?«
    »Ja«, sagte er, ein wenig außer Atem, »aber vorher musste ich mich durch den Schnee dort hinaufarbeiten, ich dachte, ich schaff es nicht …«
    »Schon recht!«, unterbrach ihn Tecla. Dann lächelte sie und fragte: »Wie hast du das bloß erraten?«
    »Was erraten?«
    »Dass ich auf Typen mit Fantasie stehe.«
    »Fantasie! Aber nein, das war …«
    Sie rückte wieder näher; und ein weiterer Kuss ließ den Protest des Anwalts Malfanti verstummen.
    … inzwischen frag ich mich, was eigentlich mit mir nicht stimmt. Denn ich spüre es ganz deutlich - vielleicht verstehen Sie das -, ich spüre es, wenn ich durch den Wald laufe, genauso wie wenn ich zu arbeiten versuche. Die Geschichte des Stausees von Malvaglia kann doch nicht einfach so enden.
    Ich darf mich ja nicht beklagen. Ich bin vollkommen rehabilitiert: Die Polizei hat Tommi als den Schuldigen in den Mordfällen Pellanda und Vassalli und Calgari als den Mörder von Desolina und ebenjenem Tommi identifiziert. Der Fall ist erledigt. Staatsanwalt Rodoni hat sogar die peinlicheren Begleiterscheinungen dieser Nacht zu den Akten gelegt, etwa den Umstand, dass eine Polizeipatrouille gemeinsam mit dem alten Giona etliche Flaschen Schnaps geleert hat.
Aber was mit Tommi passiert ist, wie er zum Mörder wurde, das werden wir nie im Einzelnen erfahren. Andrea Porta hat an jenem verhängnisvollen Abend alles beobachtet, und kurz drauf begann es mit ihm bergab zu gehen. Vielleicht hat er mit seinem Sohn geredet - aber auch ohne ihn in sein Wissen einzuweihen, wird er ihn sicher mit seinem Schuldgefühl belastet haben. Und im Lauf der Jahre wurde Tommis Obsession nicht kleiner, im Gegenteil. So etwas verselbständigt sich ja oft und führt dann ein Eigenleben. Das hätte mir vielleicht auch passieren können, wer weiß es? Wer weiß, wie und weshalb es auf einmal umkippt, wann der Punkt überschritten wird, an dem es kein Zurück mehr gibt. Was hingegen Calgari zum Mörder gemacht hat, das wissen wir: Habgier.
Wie kann es sein, dass wegen eines Geldwäschereigeschäfts so viele Menschen sterben mussten? In den letzten Tagen habe ich auch mit einigen Finanzberatern gesprochen, und alle, die ich auf das schmutzige Geld ansprach, sagten: Wieso hätte ich das wissen sollen? Als hätten sie sich miteinander abgesprochen. Das wird der Grund sein, weshalb Finzi unter unseren Tessiner Politikern offenbar nicht wenige Freunde hat. Jedenfalls weiß ich jetzt, dass die Gesetzeslage heute eine andere ist als damals und die Geldwäscherei inzwischen ziemlich kompliziert. In den achtziger Jahren war der Finanzplatz Lugano ein unerforschter Urwald … stellen Sie sich vor, Calgari gab das Geld, das er nachher angeblich durch Spekulationen auf den Jungferninseln verlor, sogar beim Finanzamt an! Und wieso steht jetzt kein Polizist oder Steuerfahnder vor Amedeo Finzis Tür?
Vor kurzem wurden die Überreste meines Vaters und Martignonis aus dem See geborgen und beigesetzt. Desolina hatte schon Recht. Mein Vater lag zwanzig Jahre lang tot in einer Truhe auf dem Grund des Sees, während Calgari und Finzi lächelnd ihre jeweilige Klientel bedienten.
Ich weiß, in Wirklichkeit spielt es keine Rolle, wer die Schuldigen sind und was sie tun. Diese Angelegenheit muss ich mit meinen Toten ausmachen, mit meinem Vater, mit Desolina, mit Tommi. Sie würden mir raten, weiterzumachen, meinem idiotischen Beruf nachzugehen, und das so gut wie möglich. Aber ich weiß, dass ich noch lang von dieser Fettwachsleiche träumen werde, die mich aus einem finsteren Keller unter Wasser angestarrt hat.
Trotzdem muss
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