Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters
Autoren: Robert Silverberg
Vom Netzwerk:
Minbain. »Da geht es wieder los! Habt ihr das nicht gehört?«
    »Harruel, ganz bestimmt«, sagte Sinistine. »Der träumt davon, wie er mit dir kopuliert, Minbain.«
    Boldirinthe kicherte. »Also, das wäre mal ‘ne Partie! Die Minbain und der Harruel! Ach, wie ich dich beneide, Minbain! Stell dir bloß mal vor, wie der dich packt und wie er dich niederwirft und dich…«
    »Hssscht!« rief Minbain. Sie packte ihren Korb mit Grünblattpflanzen und schleuderte ihn gegen Boldirinthe, die ihn gerade noch mit dem Ellbogen abwehren konnte. Der Korb prallte nach oben weg, kippte, und eine Masse der klebrigen gelben Blüten rieselte heraus und verstreute sich über Sinistine und Cheysz. Die Frauen gafften. Ein derartiger Temperamentsausbruch war wirklich eine Seltenheit. »Warum hast du das getan?« fragte Cheysz. Sie war eine kleine sanftmütige Frau, und der Zornesausbruch Minbaines schien sie eher zu erstaunen. »Da, schau nur, sie kleben überall an mir«, sagte Cheysz, und sie sah aus, als werde sie gleich in Tränen ausbrechen. Tatsächlich, die blassen chartreusefarbenen Blüten, die voller glitzerndem Nektar steckten, hafteten an ihrem Fell in kleinen Häufchen, was ihr ein bizarr geflecktes Aussehen verlieh. Auch Sinistine war mit den Blüten bedeckt, und während sie versuchte, eine wegzuzupfen, blieb ihr Pelzhaar daran haften, und sie heulte vor Schmerz auf. Ihre blaßblauen Augen glitzerten in eisigem Zorn, sie griff nach einer kräftigen schwarzen Samtbeerenranke, die gerade vor ihren Füßen lag, hob sie wie eine Peitsche und schob sich auf Minbain zu.
    »Halt!« rief Galihine laut. »Habt ihr allesamt den Verstand verloren?«
    »Horcht!« sagte Minbain. »Da ist wieder dieses Geräusch.«
    Alle verstummten.
    »Diesmal hab ich es auch gehört«, sagte Cheysz.
    »Ich auch«, sagte Sinistine und riß glotzend vor Erstaunen die Augen weit auf. Sie schleuderte die Ranke fort. »Wie ein Stöhnen, ja. Genau wie du gesagt hast, Minbain.«
    »Was könnte das nur gewesen sein?« fragte Boldirinthe.
    »Vielleicht ein Gott, der dicht vor unserer Tür herumwandert«, sagte Minbain. »Vielleicht Emakkis, der ein verlorenes Schaf sucht. Oder Dawinno, der sich die Nase schneuzt.« Sie zuckte die Achseln. »Merkwürdig. Sehr merkwürdig. Wir sollten nicht vergessen, Thaggoran davon zu berichten.« Sie kehrte sich Cheysz zu und lächelte sie um Vergebung bittend an. »Komm, laß mich dir helfen, das Zeug aus deinem Pelz rauszuholen.«
    Ryyigs Erwachen hatte nur einen kurzen Augenblick gedauert; alles hatte sich dermaßen rasch abgespielt, daß sogar jene, die Zeugen davon waren, nicht so völlig glauben mochten, daß sie wirklich gesehen und gehört hatten, was sie gesehen und gehört hatten. Und jetzt hatte sich der Träumeträumer erneut in seine Mysterien verloren, seine Augen waren geschlossen, die Brust hob und senkte sich langsam, so langsam, daß er fast wie aus Stein geschnitten aussah. Aber sein Aufschrei war bedeutsam genug, insbesondere da er so kurz auf die Entdeckung Thaggorans erfolgt war, daß die Eisfresser heraufzusteigen begönnen. Beides waren Omen. Ganz eindeutig, es waren Vorzeichen.
    Für Koshmar stellten sie Hinweise dar, daß die neue Frühlingszeit der Welt kurz bevorstehe. Vielleicht war die Zeit ja noch nicht ganz da, aber es war gewiß, sie würde kommen.
    Schon vor diesem einen Tag der seltsamen Begebnisse hatte Koshmar die Wandlungen verspürt, die sich im Lebensrhythmus des Stammes zu entwickeln begannen. Alle hatten sie es gespürt. Es hatte sich etwas im Kokon geregt. Etwas hatte sich zu regen begonnen im Kokon, ein Ferment der Lebensgeister, ein Gefühl von neuen Anfängen, die knapp vor der Entfaltung stehen. Die alten Verhaltensmuster, die tausend und abertausend Jahre lang Gültigkeit besessen hatten, begannen zu zerbröseln.
    Die Schlafperioden hatten sich als erste verändert. Minbain hatte darauf hingewiesen. »Mir kommt es vor, wie wenn ich überhaupt nie mehr schlafe«, hatte sie gesagt, und ihre Freundin Galihine hatte dazu genickt und gesagt: »Genau wie bei mir. Aber ich bin nicht müde. Also, was ist das?« Bislang war es der Brauch beim Volk des Kokons gewesen, einen längeren Abschnitt ihrer Zeit schlafend als wachend zu verbringen; dabei lagen sie dann zu zweit oder dritt in komplizierten pelzigen Knäueln beisammen und gaben sich ganz ihren nebelhaft-dunstigen Traumgeschichten hin. Jetzt war dies anders. Jetzt wirkten alle seltsam wach, ruhelos, aktiv und bestürzt
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher