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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters
Autoren: Robert Silverberg
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uralte Amulett an der Schnur um seinen Hals.
    Etwas Lebendiges. Ja. Mit dumpfem Hirn, fast seelenlos, aber eindeutig lebendig und von heißer Lebensintensität pulsend. Und gar nicht weit entfernt. Thaggoran begriff: Das Wesen war nicht weiter als eine Armeslänge weit durch eine Gesteinsschicht von ihm getrennt. Und allmählich gewann das Bild des Wesens für ihn Gestalt: eine massig-mächtige, gliederlose, dickleibige Kreatur, die auf ihrem Schwanz aufgerichtet in einem senkrechten Tunnel stand, der kaum weiter war als sie selbst. Über den fleischigen Leib verliefen große schwarze Stacheln von vorn bis hinten, die dicker waren als ein Männerarm, und aus tiefen roten Kratern in dem bleichen Fleisch strömte ein pulsierender Schwall von Übelkeit erregendem Gestank herauf. Das Wesen bewegte sich mit unerbittlicher Zielstrebigkeit durch den Berg voran, es bahnte sich mit breiten, stumpfen felsbrockenhaften Zähnen kauend und mahlend einen Weg; es nagte am Fels, verschlang-verdaute ihn und schied ihn am Hinterende des massigen fleischigen Leibes, etwa dreißig Mannslängen vom Maul entfernt, als feuchten Sand wieder aus.
    Aber das Geschöpf war nicht das einzige seiner Art, das da heraufzusteigen versuchte. Thaggoran saugte inzwischen von beiden Seiten, rechts und links, weitere heftig-pulsierende Emanationen ein. Es mußten drei von diesen großen Tieren sein, nein, fünf, nein, vielleicht ein Dutzend. Jedes steckte eingeschlossen in seinem schmalen Tunnel, und jedes befand sich ohne Hast auf dem Weg nach oben.
    Eisfresser, dachte Thaggoran. Yissu! War so was möglich?
    Erschüttert und bestürzt kauerte er bewegungslos da und lauschte dem Pochen der Seelen der riesigen Tiere.
    Ja, nun war er gewiß: bestimmt waren das Eisfresser, die sich dort unten bewegten. Er hatte nie einen davon gesehen – niemand hatte je einen Eisfresser erblickt –, doch er trug in seinem Hirn ein klares Bild von ihrem Aussehen. Auf den ältesten Blättern der Stammeschronik wurde von ihnen berichtet: gewaltige Geschöpfe, von den Göttern in den ersten Tagen des Langen Winters ins Leben gerufen, während die weniger abgehärteten Bewohner der Großen Welt unter der Finsternis und Kälte verdarben und starben. Die Eisfresser richteten sich Behausungen in den schwarzen Tiefen der Erde ein, und sie bedurften weder der Luft, noch des Lichtes, noch der Wärme. Ja sie scheuten sogar vor derlei zurück, als wären es Gifte. Und die Seher hatten vorhergesagt, daß beim Winterende die Zeit kommen werde, wo die Eisfresser zur Oberfläche heraufzusteigen beginnen würden, bis sie endlich in helles Tageslicht vordringen und dort zugrundegehen würden.
    Und nun, so schien es, hatten die Eisfresser ihren Aufstieg begonnen. Nahte also endlich das Ende des langen Winters?
    Vielleicht aber waren diese Eisfresser auch nur verwirrt. Die Chroniken legten Zeugnis ab von zahlreichen falschen früheren Vorzeichen. Thaggoran kannte die Texte wohl: das ‚Buch der Unseligen Dämmerung’, das ‚Buch des Kalten Erwachens’ und das ‚Buch vom Trügerischen Glühen’…
    Es machte jedoch keinen großen Unterschied, ob es das echte Vorzeichen des Frühlingserwachens war oder wieder nur eine weitere quälende Enttäuschung in der langen Reihe fruchtloser Erwartungen. Gewiß war aber eines: Das Volk würde seinen Kokon verlassen und in die geheimnisvolle Fremde der offenen Welt hinausziehen müssen.
    Denn Thaggoran erkannte sogleich das ganze Ausmaß des Unglücks. In den Jahren seiner Spähgänge durch die verlassenen unterirdischen Passagen hatte sich eine Karte ihrer verzwickten Anlage mit scharlachrot leuchtenden Linien in sein Gehirn gezeichnet. Die gewaltigen gleichgültigen Ungeheuer, die sich langsam durch Erde und Gestein nach oben gruben, würden dabei schließlich mitten ins Herz der Wohnkammer vorstoßen, in der das Volk seit so vielen Tausenden von Jahren gehaust hatte. Daran konnte man keinen Zweifel hegen. Das Gewürm würde sogar direkt an der Stelle unter dem Opferstein heraufbrechen. Und der Stamm würde ihrem blinden Heraufdringen ebenso wenig Widerstand entgegensetzen können, wie wenn einer versuchte, einen herabstürzenden Todesstern in einem Netz aus geflochtenem Gras einzufangen.
    Weit oberhalb der Höhlung, in der Thaggoran kniete und die Eisfresser belauschte, begab sich zur gleichen Zeit Torlyri, die Opferfrau und Tvinnr-Gefährtin von Koshmar, der Anführerin des Stammes, zum Ausgangsloch des Kokons. Es war die Zeit des Sonnenaufgangs,
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