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Am Ende des Winters

Am Ende des Winters

Titel: Am Ende des Winters
Autoren: Robert Silverberg
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wäre an dir vorbei gewesen – und drüben. Und dann wäre ich eben einfach bis morgen früh dort geblieben, und niemand hätte überhaupt etwas gemerkt. Ich meine, ich hab ja schließlich keinem was Böses getan. Ich wollte doch nur den Fluß sehen.«
    Sie seufzte. Der furchtsame, flehende Blick des Jungen war herzerweichend. Und, ehrlich gesagt, was hatte der Kleine denn schon Schlimmes getan? Er war ja nicht einmal weiter als zehn Schritte nach draußen gekommen. Und sie hatte Verständnis für das sehnsüchtige Verlangen, herauszufinden, was jenseits der Wände des Kokons lag; diese brodelnde wissenwollende Neugier, der Schwarm unbeantworteter Fragen, die unablässig in diesem Kind toben mußten. Ein bißchen hatte sie das ja auch selbst erlebt, obwohl ihre Seele, zugegebenermaßen, kaum etwas von dem Feuer besessen hatte, das in diesem verwirrten Jungen brennen mußte. Jedoch: Das Gesetz war das Gesetz… und er hatte es übertreten. Das durfte sie nicht übersehen, es sei denn, sie nahm das Wagnis auf sich, ihre eigene Seele ins Verderben zu stürzen.
    »Bitte, Torlyri, bitte…«
    Sie schüttelte den Kopf. Ohne den Blick von dem Jungen zu wenden, schaufelte sie zusammen, was sie für das Opfer im Kokon benötigte. Und wieder warf sie kurze Blicke in alle die Fünf Heiligen Richtungen. Und sie sprach die Fünf Namen. Dann wandte sie sich dem Jungen zu und bedeutete ihm mit einer scharfen Geste, er solle ihr vorangehen und durch die Luke steigen. Das Kind wirkte schreckensstarr. Sanft und leise sagte Torlyri: »Mir ist keine Wahl gegeben, Hresh. Ich muß dich vor Koshmar bringen.«
    Vor langer Zeit hatte jemand an der Hinterwand der Zentralkammer in Augenhöhe ein schmales schimmerndschwarzes Steinband angebracht. Keiner wußte mehr, aus welchem Anlaß es dort ursprünglich befestigt worden war, doch im Verlauf der Jahre hatte es den Charakter einer geheiligten Erinnerung an die dahingegangenen Anführer des Stammes angenommen. Koshmar hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, mit den Fingerspitzen darüber wegzustreifen und hastig die Namen der Sechs zu flüstern, die ihre jüngsten Vorgänger waren, wenn Ängste über die Zukunft des Volkes sie bedrücken wollten. Dies war ihr Stoßgebet, um die Kraft der Geister ihrer Vorgänger zu beschwören, um sie zu bitten, in sie einzugehen und sie zu der richtigen Entscheidung zu geleiten. Diese Anrufung erschien ihr irgendwie als eine direktere, eine brauchbarere Art der Hilfesuche, als wenn sie sich an die Fünf Himmlischen wandte. Koshmar hatte sich ihr kleines Ritual ganz allein erfunden.
    In jüngerer Zeit war sie dazu übergegangen, das schwarze Steinband jeden Tag zu berühren, und später gar zwei- oder dreimal am Tag, wobei sie jedesmal die ‚Namen’ vor sich hinsprach:
    Thekmur Nialli Sismoil Yanla Vork Linidon…
    Letzthin war sie von Vorahnungen überkommen worden; worauf sie sich bezogen, das hätte sie nicht zu sagen gewußt, doch sie spürte, daß eine gewaltige Veränderung über die Welt herniederkommen mußte und daß sie schon bald starker höherer Lenkung bedürftig sein werde. In solchen Gefühlsaugenblicken spendete der Stein ihr Trost.
    Koshmar fragte sich, ob ihre Nachfolgerin ebenfalls das Ritual der Steinberührung vollziehen würde, wenn ihre Seele bekümmert war. Denn sie wußte, es war schon fast die Zeit gekommen, da sie an eine Nachfolgerin denken mußte. Sie wurde in diesem Jahr dreißig. Noch fünf Jahre – und sie hatte die Altersgrenze erreicht. Ihr Todestag würde kommen, wie er für Thekmur und Nialli und Sismoil und die übrigen erschienen war, und das Volk würde sie zu der Ausstiegsluke bringen und sie hinausstoßen, auf daß sie in der Kälte zugrunde ginge. So war es der Brauch, und er war unabänderlich und absolut: Denn der Kokon war begrenzt, die Nahrung war knapp, man mußte den Nachfolgenden Platz machen.
    Sie schloß die Augen, legte die Finger auf den schwarzen Stein und stand ganz still; eine starke, breitschultrige Frau mit wachen Augen, auf der Höhe ihrer Stärke und Macht, und sie flehte um Hilfe.
     Gerade in diesem Augenblick kam Torlyri in die Kammer gestoben und zerrte Minbains unbotmäßigen Balg Hresh mit sich, den Kleinen, der immer überall herumschnüffelte und seine Nase an alle möglichen Orte steckte, wo er nichts verloren hatte. Der Junge heulte und zappelte und wand sich wütend in Torlyris Griff. Seine Augen funkelten wild und glühten von Furcht, ganz als habe er soeben einen Todesstern auf das
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