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Am Anfang war der Seitensprung

Am Anfang war der Seitensprung

Titel: Am Anfang war der Seitensprung
Autoren: Amelie Fried
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waren sie sich das erste Mal an diesem Nachmittag einig. Eine Therapie? Niemals, sie waren doch nicht gestört! Der Countdown lief: Werbung, Nachrichten, Wetter, Verkehrsdurchsage. Statt, wie beim letzten Mal, immer nervöser zu werden, wurde ich plötzlich ganz ruhig. Nichts war wirklich wichtig, schon gar nicht eine Radio-Talk-Show. Wichtig war nur, daß meine Tochter zurückkam.
    Der Anfangs-Jingle lief. Eine männliche Stimme sprach in die Musik hinein: »Und nun die Radio-Talk-Show auf Radio Süd, heute mit Bella Schrader.«
    Ich schluckte vor Schreck, meinen Namen zu hören, dann machte ich die Begrüßung und sagte die erste Musik an.
    Mutter und Tochter rutschten unruhig auf ihren Stühlen hin und her, der Doc lächelte weiter unergründlich vor sich hin.
    »Fragen Sie mich ruhig, was mich an meiner Mutter nervt«, platzte Anita heraus.
    »Das erzählst du ja sowieso jedem, egal, ob du gefragt wirst oder nicht«, giftete Frau Dankwart zurück.
    »Verschießen Sie Ihr Pulver nicht«, lächelte ich. »Wir sind noch gar nicht auf Sendung.«
    Nach »Radar Love«, einem meiner Lieblings-Oldies, stellte ich meine Gäste vor und forderte die Zuhörer zum Anrufen auf.
    Dann hetzte ich als erstes die zwei Streithennen aufeinander, die wie auf Knopfdruck anfingen zu zetern.
    Anschließend befragte ich den Professor nach den typischen Konflikten zwischen Müttern und Töchtern. Er stellte anschaulich dar, welche falschen Erwartungen und Mißverständnisse das Mutter-Tochter-Verhältnis belasten können, und ich hätte am liebsten bei jedem seiner Worte zustimmend genickt. Der Mann blickte durch.
    Das Telefon lief heiß. Offenbar hatten wir mit diesem Thema in ein Wespennest gestochen. Wütende Töchter, enttäuschte Mütter, genervte Ehemänner und verständnislose Söhne nutzten die halb anonyme Situation, um Dampf abzulassen. Ich war überrascht, wie offen die Anrufer von ihren Problemen sprachen.
    Im Radio konnte man eben nicht gesehen werden. Ob die Leute ihren richtigen Namen sagten oder nicht, konnten wir nicht nachprüfen, und so fiel manche Hemmschwelle.
    Ich kam kaum dazu, ein paar Musiktitel zu spielen, da war die erste Stunde schon um.
    Die zweite Stunde stand unter dem Motto: Einschneidende Erlebnisse zwischen Müttern und Töchtern. Sie sollte Gelegenheit geben, sich an gemeinsam Erlebtes zu erinnern, auch an Positives.
    Frau Dankwart erzählte, wie unendlich glücklich sie sich gefühlt hatte, als sie nach einer schweren Kaiserschnittgeburt ihre Tochter das erste Mal im Arm gehalten hatte.
    »Da konnte ich mir noch nicht vorstellen, wieviel Kummer mir die Kleine später machen würde«, sagte sie mit traurigem Lächeln.

    Ihre Tochter sah starr vor sich hin.
    »Und du, Anita, an welches wichtige Erlebnis kannst du dich erinnern?« fragte ich sie sanft.
    »Ich … ich weiß nicht. Einmal wollte ich alles hinschmeißen und von zu Hause weglaufen.«
    Ich schluckte.
    »Warum hast du es nicht getan?«
    Sie lachte auf.
    »Ich hatte schon alles vorbereitet, meine Tasche gepackt, meine Sparbüchse aufgebrochen, Brote geschmiert und versteckt. Dann kriegte ich Fieber. Ich lag mindestens ’ne Woche im Bett. Meine Mutter hat mich total lieb gepflegt.
    Später hat sie verwundert gefragt, was die verschimmelten Brote im Briefkasten zu bedeuten hätten.«
    Alle lachten. Beim Versuch, ebenfalls zu lachen, kamen mir die Tränen. Ich schlug die Hände vors Gesicht.
    »Frau Schrader, was ist denn?«
    Professor Lanz sah mich erschrocken an.
    »Nichts«, stammelte ich, »meine Tochter ist vor zwei Tagen abgehauen. Ich mache mir große Sorgen, wissen Sie.«
    Er nickte. »Das verstehe ich sehr gut. Haben Sie eine Ahnung, warum Ihre Tochter das getan hat?«
    »Ich glaube schon. Ich habe sie ziemlich im Stich gelassen in letzter Zeit; mir ging’s selbst nicht so gut, und da habe ich mich wohl nicht genug um sie gekümmert.«
    Ich konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten.
    Frau Dankwart und Anita sahen mich eingeschüchtert an. Das war nicht vorgesehen, daß die Moderatorin in Tränen ausbrach. Warum knallte die verdammte Technikerin keine Musik rein, bis ich mich beruhigt hatte?

    Im Technikraum schienen alle zu Salzsäulen erstarrt zu sein.
    Ich schluchzte und schluckte und kämpfte mit aller Kraft gegen das Weinen an. Daß mein Make-up anfing, sich aufzulösen, war nicht so schlimm, schlimmer war, daß ich meine Stimme nicht unter Kontrolle hatte.
    Das Telefon klingelte.
    Ausgerechnet jetzt mußten die mir ein Gespräch
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