Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Am Anfang war der Seitensprung

Am Anfang war der Seitensprung

Titel: Am Anfang war der Seitensprung
Autoren: Amelie Fried
Vom Netzwerk:
reinlegen! Ich drückte den Annahmeknopf, in der Hoffnung, der Anrufer würde so lange reden, bis ich mich wieder gefaßt hätte.
    »Hallo?« brachte ich heraus.
    Am anderen Ende der Leitung atmete jemand.
    »Wer ist denn da?«
    »Mami … ich bin’s, Lucy.«
    Ich brachte kein Wort heraus.
    »Mami, hörst du mich?«
    »Ja, Lucy, ich hör dich«, krächzte ich endlich.
    »Ich wollte dir nur sagen, es ist alles o.k. Macht euch keine Sorgen.«
    »Lucy, leg nicht auf! Wo bist du?«
    »Ich melde mich wieder. Tschüß.«
    Klack. Die Leitung war unterbrochen.
    Oh Gott, war ich erleichtert!
    Im Studio redeten jetzt alle durcheinander, ich weinte und lachte gleichzeitig.
    Endlich kam die Schlaftablette von Technikerin auf den glorreichen Gedanken, Musik einzuspielen.
    Ich weiß nicht, wie ich den Rest der Sendung hinter mich gebracht habe, irgendwann lag ich jedenfalls in den Armen von Frau Wüster.

    »Es ist das reine Wunder, daß sie überhaupt durchgekommen ist«, sagte sie. »Die Leitungen waren so überlastet, wir hatten Angst, sie würden zusammenbrechen. Dann hatte ich dieses junges Mädchen an der Strippe, das sagte: »Ich muß Frau Schrader was Wichtiges sagen.« Irgendwie wußte ich, das kann nur Ihre Tochter sein!«
    Dankbar drückte ich sie an mich. »Die Sendung war wohl nicht ganz so, wie Sie und Herr Bammer sich das vorgestellt hatten, was?« fragte ich.
    Sie sah mich eindringlich an. »Ich arbeite seit vielen Jahren beim Radio, und noch nie habe ich mir vor Aufregung fast in die Hose gemacht. Das war ein Stück richtiges Leben, und das verirrt sich sonst selten zu uns!«
    Ich verstand nicht genau, was sie meinte. »Ist das jetzt gut oder schlecht?«
    Sie lachte. »Ich würde mich freuen, wenn wir uns in Zukunft duzen würden«, sagt sie statt einer Antwort, »ich finde, Sie sind eine tolle Frau.«
    »Du bist auch eine tolle Frau«, erwiderte ich und fuhr ihr mit der Hand durch die Igel-Haare.

    Als ich aus dem Sender kam, warteten Friedrich und Jonas auf mich.
    »Sie ist in Nürnberg. Bei Elisabeth«, sagte Friedrich.
    »Waaas?«
    »Kurz bevor die Sendung losging, rief sie an. Ich nehme an, Elisabeth hat sie dazu gebracht. Ich sagte ihr, wo du bist, und danach muß sie die Idee gehabt haben, sich bei dir zu melden.«
    Offenbar war unsere Vermutung richtig gewesen, und Lucy war zu ihrer Freundin Natalie getrampt. Die beiden hatten zwei Tage und Nächte bei irgendwelchen Freunden zugebracht, dann hatten sie sich gestritten. Weil Lucy kein Geld mehr hatte und nicht wußte, wohin, war sie auf Tante Elisabeth verfallen, die in der Nähe wohnte.
    »Wir fahren sofort hin und holen sie ab«, schlug ich vor.
    »Laß uns noch ein bißchen warten«, sagte Friedrich.
    »Ich habe mit Elisabeth gesprochen und glaube, ein paar Tage mit ihr werden einen guten Einfluß auf Lucy haben.
    Du kennst das doch selbst, manchmal muß man mit jemandem reden, der nichts mit dem eigenen Gefühlskuddelmuddel zu tun hat.«
    Da hatte er wahrscheinlich recht. Und so schwer es mir fiel, Lucy nicht sofort in die Arme schließen zu können, ich erklärte mich einverstanden.

    Drei Tage später holte ich sie am Bahnhof ab.
    »Laß mich allein hinfahren«, hatte ich Friedrich gebeten.
    Aufgeregt wie vor einem Rendezvous erwartete ich Lucy am Bahnsteig.
    Als der Zug mit zehn Minuten Verspätung endlich einfuhr, trat ich ungeduldig von einem Fuß auf den anderen.
    Da! Dort hinten kam sie. Unübersehbar mit der neongrünen Windjacke und dem leicht abgehackten Gang, der durch die Plateausohlen hervorgerufen wurde. Sie machte ein betont unbeteiligtes Gesicht, so, als würde ich sie von der Schule abholen und nicht von einem Abenteuer, das mich fast um den Verstand gebracht hatte.
    »Hallo, Mami.«
    Ich stand ganz still und sah sie an. Sie trug immer noch den Silberring in der Lippe, das Symbol ihrer Verletzungen. Zart strich ich mit dem Zeigefinger über die Stelle.
    Dann nahm ich meine Tochter vorsichtig, wie einen zerbrechlichen Gegenstand, in die Arme. Die Tränen rannen mir übers Gesicht.
    »Hallo, mein kleines, großes Mädchen.«
    Einen Moment hielten wir uns schweigend umarmt, dann sagte Lucy: »Wollen wir ins ›Rio‹, ein Eis essen und ein bißchen quatschen?«

Sechsundzwanzig
     
    Heute war mein Geburtstag. Achtunddreißig. Kein Schlechtes Alter, um endlich nicht mehr nur Tochter, Ehefrau oder Mutter zu sein, sondern ganz einfach ich selbst.
    Ich saß mit Friedrich in einem kuscheligen, kleinen Lokal, wir hatten köstliche Tagliatelle
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher