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Altar der Ewigkeit: Thriller (German Edition)

Altar der Ewigkeit: Thriller (German Edition)

Titel: Altar der Ewigkeit: Thriller (German Edition)
Autoren: Philip Carter
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beweisen, dass sie sich irrten, oder die Wölfe konnten sich an zwei weiteren Opfern gütlich tun.
    Lena schloss sanft die Augen des Gefangenen, der irgendwann in der letzten Stunde gestorben war. In das Feld TODESURSACHE auf seinem Krankenblatt schrieb sie Herzversagen, weil sie Verhungern nicht schreiben durfte.
    Sie sah auf ihre Armbanduhr, und das Herz blieb ihr fast stehen. Nach elf, heilige Muttergottes, wo war Sergeant Chirkow? Er sollte längst hier sein. Um Mitternacht mussten sie und Nikolai auf der anderen Seite des Hofs hinter den Latrinen sein, bereit, in den rund fünfundvierzig Sekunden, in denen die Suchscheinwerfer während des Schichtwechsels auf den Wachtürmen dunkel blieben, über das Niemandsland zu stürmen. Aber sie konnten das Krankenrevier erst verlassen, wenn der Sergeant seinen allnächtlichen Bettenappell durchgeführt hatte.
    Lena starrte auf ihre Uhr, während die Sekunden verrannen. Sie hatte keine Wahl, sie würde ihre Runden fortsetzen müssen. Lungenentzündung, Ruhr, Frostbeulen… Die Betten, auf denen die Patienten lagen, waren wenig mehr als hölzerne Gerüste; sie hatten nur grobe Decken, um sich zuzudecken. Und es war immer so kalt, so kalt. Sie lauschte angestrengt auf die schweren Schritte des Sergeanten. Weitere fünf Minuten vergingen. Zehn.
    Sie ging zum nächsten Bett, zu einem Jungen, der versucht hatte, Selbstmord zu begehen, indem er sich mit den Zähnen die Adern am Handgelenk aufriss. Er würde morgen früh tot sein. Und der alte Mann neben ihm hatte sich mit der Axt in den eigenen Fuß gehauen…
    Die Tür öffnete sich mit dem Kreischen rostiger Angeln, und Lena hätte fast eine Schale mit sterilen Verbänden fallen lassen.
    Sergeant Chirkow kam herein und brachte einen Schwall kalte Luft mit. Er stampfte sich den Schnee von den Stiefeln. Ein schüchternes Lächeln ließ seine Gesichtszüge weicher werden, als er Lena sah. » Sie haben heute Nacht also Dienst. Ich hatte es gehofft… ich meine, ich…« Er errötete und wandte den Blick ab. » Genossin Orlowa«, endete er mit einem steifen Nicken.
    » Genosse Sergeant.« Lena stellte die Schale ab und warf rasch einen verstohlenen Blick auf die Uhr. Elf Uhr achtzehn. Sie konnten es immer noch schaffen. Der Sergeant musste nur schnell machen mit seinem Appell und verschwinden.
    Er schlenderte zum Ofen hinüber und hob seinen Übermantel, um sich den Rücken zu wärmen. Der Ofen– im Grunde nur ein kleiner eiserner Kohlentopf– bewirkte kaum mehr als eine Delle in der Eistruhenkälte des langen, schmalen Raums.
    » Haben Sie von der Aufregung gehört, die es heute Morgen gab?«, fragte er.
    » Ich habe die Nachwirkungen gesehen. Am Tor hängen.«
    » Nun ja…« Der Sergeant zuckte mit den Achseln, als wollte er sagen: War etwas anderes zu erwarten? Er begann, die Zutaten für eine Zigarette aus der Manteltasche zu holen, und Lena hätte am liebsten geschrien vor Frust.
    » Dieser dumme Zek«, fuhr der Sergeant fort, während er ein Stück Zeitungspapier abriss und brösligen Tabak daraufschüttete. » Dachte er wirklich, er kommt lebend über den Zaun? Und selbst wenn er es durch ein Wunder geschafft hätte, ohne durchsiebt zu werden– da draußen hätte Sibirien auf ihn gewartet und nicht ein Spaziergang über den Roten Platz.«
    Lena sah von dem halb amputierten Fuß auf, den sie gewaschen hatte. Der Sergeant hatte den Kopf von ihr abgewandt, während er seine Zigarette anzündete. Sie hatte den schrecklichen Verdacht, er wüsste, was sie plante, und versuchte, sie zu warnen. Aber als er sie wieder ansah, war nichts aus seiner Miene zu lesen.
    » Sie haben recht«, sagte sie. » Der Gefangene hatte keine Chance.«
    » Warum tun sie es dann? Können Sie mir das sagen? Warum versuchen sie zu fliehen, wenn sie wissen, dass es hoffnungslos ist?«
    » Ich weiß es nicht«, log Lena.
    Sie wickelte einen frischen Verband um die offenen Stummel der fehlenden Zehen. Der Mann lag steif auf seiner Pritsche und gab keinen Laut von sich, obwohl er große Schmerzen haben musste. Er hatte es sich selbst angetan. Er hatte eine Axt genommen und versucht, sich den Fuß abzuhacken, um aus den Nickelminen zu kommen. Es war ein Akt irrwitziger Verzweiflung, aber Lena verstand, warum er es getan hatte.
    Der Sergeant verließ den Ofen schließlich, aber statt seine Betten zu zählen und zu gehen, schlenderte er ans Fenster. Lena bezweifelte, dass er sein eigenes Spiegelbild sehen konnte, da so viel Eis das Fenster benetzte.
    »
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