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Altar der Ewigkeit: Thriller (German Edition)

Altar der Ewigkeit: Thriller (German Edition)

Titel: Altar der Ewigkeit: Thriller (German Edition)
Autoren: Philip Carter
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Heute Nacht kommt noch ein Purga. Man spürt es in der Luft. Sie sollten nicht…« Seine Stimme verlor sich.
    Lena war sich jetzt sicher, dass er sie zu warnen versuchte. Sie sollten das nicht tun, was Sie vorhaben, Lena Orlowa. Tun Sie es nicht. Nicht heute Nacht. Nie.
    Das Schweigen zog sich in die Länge, bis Lena es nicht mehr ertrug. » Ich sollte was nicht?«
    » Nichts. Nur dass man sich bei einem Schneesturm auf dem Weg von der Küche zur Latrine verlaufen kann. Wenn Sie nach dem Ende Ihrer Schicht gern Begleitung auf dem Weg zurück zu den Baracken hätten…«
    Sie brachte ein Lächeln zustande. » Sehr gern.«
    Der Sergeant grinste und schlug die Hände zusammen. » Also gut dann.«
    Lena sah auf ihre Uhr. Elf Uhr siebenundzwanzig. Lieber Himmel. » Sergeant, sollten Sie nicht…?«
    » Ich weiß, ich weiß. Die Pflicht ruft.« Er zog ein Blatt Papier aus der Tasche. » Ich sehe, dass wir heute Abend wieder ein volles Haus haben.«
    Es gab die Regelung, dass ein Gefangener entweder verkrüppelt sein oder eine Temperatur von mehr als 38,5 Grad Celsius haben musste, um ins Krankenrevier aufgenommen zu werden, und die Betten waren immer belegt. Der Sergeant konnte es mit einem Blick in den Raum sehen, doch die Bestimmungen schrieben vor, dass er zählte, also zählte er.
    Während der Sergeant die Reihen der Betten abging und die Namen auf den Krankenblättern mit denen auf seiner Liste verglich, warf Lena die schmutzigen Verbände in einen Eimer und ging zum nächsten Patienten.
    Endlich hatte der Sergeant zu Ende gezählt. Doch anstatt zu gehen, kam er zu ihr und sah zu, wie sie das von Geschwüren entstellte Gesicht eines alten Mannes wusch, der bald an Skorbut sterben würde.
    » Sagen Sie, Genossin Orlowa, wie sind Sie an einen Ort wie Norilsk gekommen?«
    Lena steckte sich eine lose Haarsträhne hinters Ohr und trug dann etwas in das Krankenblatt ein. Geh einfach, hätte sie am liebsten geschrien. Geh, geh, geh … » Ich bin hier zur Welt gekommen. Oder besser gesagt nicht weit von hier, an der Küste des Ozero P’asino. Und ich arbeite in diesem Krankenrevier, weil es die Revolution in ihrer unendlichen Weisheit so festlegt.«
    Der Sergeant unterdrückte ein Stöhnen. » Ach, Lena. Sie sollten nicht solche Dinge sagen. Abgesehen davon, glauben Sie, mich hat jemand gefragt, ob ich gern einen Haufen armseliger Zeks am frostigen Rand des Nichts bewachen möchte? Aber die Bedürfnisse des Kollektivs müssen immer Vorrang vor den Wünschen des Einzelnen haben.«
    Sie hatte gewusst, dass ihre Schnoddrigkeit ihr Ärger machen konnte, kaum dass sie es gesagt hatte. Er überlegte sich jetzt wahrscheinlich, sie der Politruk zu melden. Doch was kümmerte es sie, wenn er es tat? Nach heute Nacht war sie fort, fort, fort.
    Ein Schweigen senkte sich zwischen sie.
    » Aber sind Sie wirklich eine von ihnen?«, sagte er schließlich, und sie wusste, er meinte die Yakuts: Rentierhalter mit ihrer dunklen, ledrigen Haut, den flachen Gesichtern und den Schlitzaugen. » Denn Ihre Augen sind wie der Himmel bei mir daheim kurz vor einem Sommergewitter. Und Ihr Haar…« Wieder hatte sich eine Strähne davon gelöst, und er streckte die Hand aus und strich sie hinter ihr Ohr. » Es hat die Farbe von reifem Weizen, durch den der Wind fährt.«
    Sie zuckte bei seiner Berührung zusammen und trat einen Schritt zurück. » Ich wusste nicht, dass so ein Dichter in Ihnen steckt, Genosse Sergeant. Und Sie irren sich. Meine Mutter war tatsächlich eine Yakut, und ich bin ihr aus dem Gesicht geschnitten, so wie sie ihrer Mutter und so weiter– eine Abstammungslinie, die bis zum Beginn der Zeit zurückreicht.«
    Sie schielte erneut zur Uhr. Elf Uhr achtunddreißig. Sie würden es jetzt nie mehr schaffen, es war zu spät. Nein, sie mussten es trotzdem versuchen. Morgen würde der Kommandant sie in die Tagschicht versetzen, wo sie monatelang festsitzen konnte. Inzwischen wäre dann Sommer, und sie wäre schon zu…
    Sie legte die Hand auf ihren Bauch, der noch flach war und nichts erkennen ließ, aber das würde nicht mehr lange so bleiben. Es hieß heute oder nie.
    Sie hob eine randvolle Bettpfanne hoch. » Verzeihen Sie, Genosse Sergeant, aber wie Sie sehen, habe ich viel zu tun.«
    » Ja, natürlich. Ich sollte ohnehin weiter meine Runde drehen, aber ich sehe Sie später? Wenn es Morgen wird?«
    » Ja. Bis später.«
    Sie empfand Gewissensbisse, als sie ihn gehen sah. Man würde ihm ihre Flucht zum Vorwurf machen, und zur Strafe
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