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Alta moda

Alta moda

Titel: Alta moda
Autoren: Magdalen Nabb
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Nikotinfingrige befahl mir zu trinken. Weil ich die Flasche mit einer Hand nicht aufbekam – später lernte ich, den Schraubverschluß mit den Zähnen zu drehen –, öffnete er sie für mich. Dann nahm ich sie ihm ab, denn obwohl die randvolle, biegsame Plastikflasche mit einer Hand schwer zu halten war, wollte ich beim Trinken nicht wieder seine Nikotinfinger riechen müssen. Auf einmal wurde ich stutzig. War es nicht merkwürdig, daß nur er allein sich noch um mich kümmerte? Ob die anderen gar nicht mehr da waren – der Fahrer des Wagens und sein Nebenmann, der von sich behauptet hatte, er sei der Boss? Wahrscheinlich nicht, denn als ich getrunken hatte, hörte ich den Nikotinfingrigen noch eine Weile herumkramen, und dann, ohne daß ein weiteres Wort gefallen wäre, verrieten mir immer leiser werdende, scharrende Kriechgeräusche und das Rascheln seiner Kleider, daß auch er sich in Richtung Ausgang entfernte. Ich lauschte angespannt ins Dunkel, besessen von der Angst, einer von ihnen oder womöglich alle drei könnten zurückkommen. Ich fürchtete mich vor neuerlichen Schlägen und mehr noch davor, daß sie mich, die wehrlos Angekettete, vergewaltigen würden. Daß sie meine Schmach entdeckten, dahinterkamen, daß ich mich naß gemacht hatte, und sich genauso vor meinem Gestank ekeln würden wie ich mich vor dem ihren. Mit solchen Gedanken quälte ich mich wohl stundenlang, bis mir endlich aufging, daß sie nicht wiederkommen würden. Sie nicht und niemand sonst. Das war das Ende. Meine Entführer konnten in aller Ruhe ihre Lösegeldforderungen stellen, während ich hier angekettet liegenblieb. Warum sich also der Gefahr aussetzen, entdeckt zu werden, wann immer sie mich mit Nahrung versorgten? Nichts sprach dafür, daß man mich jemals hier finden würde.
    In der Nacht habe ich nicht geweint. Ich glaube, man weint in der Hoffnung auf Trost und Beistand, meinen Sie nicht auch? Bei kleinen Kindern ist das zumindest so. Ein Säugling kann weder laufen noch sprechen und ist allein völlig hilflos, denn er kann weder etwas zu essen verlangen, wenn er hungrig ist, noch seine Windeln wechseln, wenn er sich naß gemacht hat. Er kann nichts weiter als weinen und plärren, doch das tut er in der Gewißheit – im Vertrauen darauf, daß garantiert jemand kommt und sich um ihn kümmert. Nun hatte ich zwar genau die gleichen Probleme wie ein hilfloses Baby: Mich fror, ich war naß und hungrig und einsam. Und einmal raffte ich mich sogar zu einem matten Greinen auf, das freilich bald wieder verstummte und natürlich nichts bewirkte. Aber es war ja keiner da, niemand hörte mich; nicht einmal eine Phantasiegestalt, die sich meiner hätte annehmen müssen. Ich war hier drinnen lebendig begraben, und das Leben draußen würde ohne mich weitergehen.
    Es war nicht das Sterben, wogegen ich aufbegehrte. Sterben müssen wir alle. Ich empörte mich dagegen, daß mir mein persönlicher Tod verwehrt wurde und ein anständiges Begräbnis, bei dem meine Angehörigen sich von mir hätten verabschieden können. Und ich wünschte mir ein richtiges Grab, eins mit Blumenschmuck. In der Regel verdrängen wir den Gedanken an den Tod, aber wenn man sich ihm stellen muß, so wie ich in jener Nacht, dann ist uns das Sterben auf einmal genauso wichtig wie das Leben. Ist wohl auch verständlich, daß man seinem Leben mit diesem allerletzten Akt ein würdiges Finale setzen möchte. – Sie merken schon, ich hatte viel Zeit zum Nachdenken, aber Ihnen helfen solche Reminiszenzen natürlich nicht weiter, auch wenn Sie mir noch so geduldig zuhören. Mich friert… Könnte ich noch so eine Decke haben? Die stammen aus den Zellen, nicht wahr? Oh, das geniert mich nicht, wo ich doch inzwischen selbst ein Häftling war… Danke schön.
    Es wurde eine endlos lange Nacht. Geschlafen habe ich überhaupt nicht. Ich konnte dieses Gefühl nicht loswerden, daß ich mich mit dem Schlaf dem Tode anheimgeben würde. Aber wenn ich wirklich in dieser Höhle den Tod finden sollte, dann wollte ich mit wachen Sinnen sterben. Wollte mein Leben bis zum Schluß bewußt erfahren, in aller grausamen Härte, angekettet, in völliger Dunkelheit. Mein Kopf war immerhin noch intakt, und hungern schärft ja angeblich den Verstand. Wer Hungers stirbt, hat, heißt es, einen leichten Tod, deliriert sich euphorisch ins Jenseits.
    Gleichwohl litt ich entsetzlich unter der Dunkelheit, jener totalen Finsternis, wie man sie nur in ganz abgeschiedenen, ländlichen Gegenden findet, eine
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