Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Alta moda

Alta moda

Titel: Alta moda
Autoren: Magdalen Nabb
Vom Netzwerk:
ihn ein paar Schritte beiseite gehen und austreten. Unterdessen drückte mir der andere das Gewehr ins Kreuz. Ich weiß nicht, was für Fluchtabsichten er mir zutraute, aber ich blieb ruhig, mit gesenktem Kopf stehen, bis ich meinen Vordermann wiederhatte, bis der Schießprügel meine Hand an den Rucksack führte und dann seinerseits austreten ging. Erst da wurde mir bewußt, daß der Nikotinfingrige nicht mitgekommen war. Ich bedeutete ihnen mit einem Zeichen, daß ich ebenfalls austreten müsse.
    »Hier rüber.« Nach links. Rechts vom Weg fiel der Hang immer noch so schroff ab, daß ich das Gleichgewicht verloren hätte. Es gelang mir, mich hinter meinem Mantel zu verstecken, und ich gab mir alle Mühe, ihn nicht naß zu machen. Aber da ich nichts sehen konnte, durchlitt ich all die Ängste, die kleine Kinder in einer solchen Notlage befallen: Angst vor Dornen, Brennesseln, Glasscherben. Es gab aber nur piksende Grasstoppeln, Pulverschnee und den eisigen Wind, der über meinen warmen, entblößten Unterleib strich. Der Gedanke an meine Freilassung hatte mir neuen Auftrieb gegeben, und mein Verstand arbeitete fieberhaft. Allem Anschein nach bestiegen wir einen Hügel oder Berg, und da der Steilhang nach wie vor rechts von uns lag, gingen wir immer in dieselbe Richtung und nicht, wie ich anfangs vermutet hatte, einfach nur im Kreis herum. Wahrscheinlich würden wir den Gipfel überqueren und erst dann einen Bogen schlagen, groß genug, daß ich die Orientierung verlor und sie gefahrlos umkehren und den Abstieg beginnen konnten. Sie können sich vorstellen, wie leicht mir ums Herz wurde, als es tatsächlich abwärts ging. Ich hatte richtig getippt. Bald würden sie mich irgendwo aussetzen. Ach, ich hätte weinen mögen vor Freude! Ich war nur einem Irrtum zum Opfer gefallen, und heute abend würde ich wieder zu Hause sein, würde nach einem warmen Bad in meiner Sofaecke sitzen und Leo und Caterina bei mir haben. Wir würden zusammen fernsehen – ich konnte meine Freunde anrufen –, mit Patrick telefonieren! Ob er schon hier war? Doch, bestimmt hatte er gleich nach Erhalt der Nachricht die erste Maschine von New York nach Italien genommen. Nur, ob man ihn benachrichtigt hatte… Wieder im eigenen Bett schlafen, in meinem schönen, ruhigen Zimmer. Das hier hatte nichts mit mir zu tun. Es war ein Irrtum, bald würde alles vorbei sein.
    Der Rucksack blieb stehen. Das war’s also. Während ich auf Anweisung wartete, sah ich im Geiste schon die Straße vor mir, die ganz in der Nähe verlief, vielleicht mit einer Tankstelle und einem dieser Einkaufszentren mit angeschlossenem Caféund Restaurantbetrieb, wie sie draußen auf dem Land üblich sind. Ich legte mir eine erste Erklärung zurecht, erwog besorgt, daß man mich für verrückt halten könnte, wenn ich so mir nichts, dir nichts hereingeschneit kam und nicht einmal ein paar Münzen zum Telefonieren bei mir hatte. Womöglich hatte noch gar nichts in der Zeitung gestanden… Seit wann wurde ich eigentlich vermißt? Mir kam es wie eine Ewigkeit vor, aber… »Hier?«
    »Doch nicht mit dem windigen Spielzeug. Nimm das Gewehr.«
    Mir brannten die Ohren, mein Herz hämmerte. Den Befehl hatte der Rucksack gegeben. Sie würden mich nicht freilassen – umbringen wollten sie mich. Nicht, daß ich in Panik geraten wäre, ich empfand zuerst gar nichts. Dann erfaßte mich eine große Woge von Traurigkeit, und ich hob den Kopf. Mein Gesicht sollte dem Himmel zugekehrt sein, auch wenn ich ihn nicht sehen konnte. Aber der Schießprügel stupste meinen Kopf wieder nach unten, und der Rucksack befahl: »Los, vorwärts.«
    Ich hörte den Schießprügel hinter mir hantieren, dann das unverwechselbare Klicken: Er hatte sein Gewehr durchgeladen. Ich wartete mit gesenktem Kopf. Er schoß. Ein warmes Rinnsal sickerte über mein Gesicht, tropfte auf meinen Stiefel – erst ein Spritzer, dann noch einer und noch einer.
    Die Detonation, das sirrende Pfeifen der Kugel dröhnten noch in meinem Kopf, als in der Ferne ein zweiter Schuß fiel, wie ein Echo.
    »Alles klar«, sagte der Rucksack.
    Schießprügel führte meine Hand wieder an den Rucksack und stieß mich auffordernd ins Kreuz.
    »Weiter.«
    Sie hatten mich nicht umgebracht. Aber sie hatten mich auch nicht freigelassen. Sie hatten lediglich ein Signal gegeben, und dieses Signal war beantwortet worden. Man hatte sich mit Gewehrschüssen verständigt. Wir befanden uns so fernab jeder Zivilisation, daß keine noch so armselige Behausung,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher