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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
Autoren: Joern Klare
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eigene Rubrik bei Facebook einrichten könnte. Und ich beschließe, in diesem Jahr meinen Geburtstag doch wieder mit meinen Freunden zu feiern, obwohl ich glaube, eigentlich zu viel zu tun zu haben. Immerhin haben schwedische Alternsforscher vom Karolinska-Institut in Stockholm festgestellt, dass Freunde gut für das Gedächtnis sind.
    – Die Demenz führt einen zu vielem hin, was mit Beziehung, Leben und der Vorstellung von gutem Leben zu tun hat. Und anstatt Urteile über die Lebensqualität dementer Leute zu fällen, könnte man ja auch einen Schritt zurücktreten und fragen: »Was sagt mir das über mein Leben?«
    Es ist schön und es tut gut, Bär zuzuhören. Für solche Gedanken, müsse man offen sein, sagt sie. Doch gerade selbstpflegende Angehörige seien oft vor lauter Belastung nicht in der Lage, diese Offenheit aufzubringen. Sie zitiert eine Tochter, die sich seit vielen Jahren ganz allein um ihre an Demenz leidende Mutter kümmert, mit dem Satz: »Wenn es bei mir so weit ist, weiß ich, wo die Tabletten liegen«, weil sie niemandem zumuten will, was sie selbst als Pflegende durchmacht.
    – Es kann fatal sein, wenn man bei der oft sehr belastenden Pflege in der Familie die Verantwortung für sich selbst missachtet. Da sollte man die Angehörigen ruhig ermutigen, den Schritt ins Heim zu wagen. Es wäre gut, wenn in den Familien schon frühzeitig über das »was wäre, wenn …« gesprochen würde. Viele ältere Menschen machen sich da oft wenig Gedanken oder teilen diese nicht mit. Für die Angehörigen ist es hilfreich, von ihnen zu erfahren, wie sie sich ihre Zukunft vorstellen. Dann kann es beispielsweise sein, dass jemand sagt: »Ich würde zwar gerne daheim sterben, aber nicht um den Preis, dass ihr bei meiner Pflege eure Gesundheit ruiniert. Bevor das eintritt, gebt mich bitte ins Heim.«
    Ihr Zug Richtung Heidelberg fährt gleich los. Wir reden noch über betreute Wohngemeinschaften für Menschen mit Demenz. Eine interessante Alternative. Doch meiner Mutter möchte ich keinen Umzug in eine neue Umgebung mehr zumuten. Bär will noch kurz nach einem Mitbringsel für ihre kleine Tochter suchen. Ich verabschiede sie mit guten Reisewünschen, und sie mich mit einem letzten Rat.
    – Wenn man Zugang zu einem Menschen mit Demenz bekommen möchte, muss man sich auf den Moment einlassen können, also auch auf die Pausen und das Schweigen des anderen. Der andere kommt ja sonst gar nicht mit, weil er ein ganz anderes Tempo hat. Für jemanden von außen, aber auch für viele Pflegende, die viele Aufgaben unter hohem Zeitdruck bewältigen müssen, ist esallerdings eine enorme Herausforderung zu sagen: »Okay, ich lasse mich auf das Jetzt ein!«

Erinnerungen XVI
    »Kannst du sagen, was in deinem Leben wichtig war für dich?«
    »Ihr, die Kinder … Guck mal, ich hab ja nichts vollbracht in meinem Leben. Außer den Kindern. Da müsste man vielleicht auch länger darüber nachdenken. Also, dies hier mit Mascha, das glaubt kein Mensch, wie wichtig das für mich ist. Ich hab vorhin so gedacht, als sie brüllte, da schob ich den Kinderwagen durch den Park und dachte, wenn einer wüsste, wie froh ich über das Kind bin – das glaubt keiner. Was die mir für eine Freude macht. Wenn ich an sie denke und sehe das Gesichtchen vor mir oder jetzt, wenn ich das Quietschen immer höre.«
    »Auch wenn sie wie jetzt kurz davor ist zu schreien?«
    »Ja. Das gehört mit dazu.«
    Mascha schreit leise.
    »Was können wir dir denn mal geben? Komm mal her. Sollen wir mal wieder ›O du fröhliche‹ singen? Ach, mein geliebtes Kind.«
    Mascha schreit laut.
    »Ich habe mir früher immer große Gedanken gemacht, dass ich mit euch auch alles richtig mache, so wie es im Buch steht. Das war auch verkehrt. Das machte man früher. Bei einem Enkelkind ist es jetzt freier und weniger belastend, als wenn man Vater oder Mutter ist.«
    Mascha schreit noch lauter.

Weihnachten
    Wir beschließen, Weihnachten mit der ganzen Familie in der Wohnung meines Bruders zu feiern, das heißt, wir schieben, schleifen und zerren unseren Vater mit seinem Rollstuhl durch ein enges Treppenhaus in den dritten Stock. Auch für meine Mutter sind die vielen Stufen eine Herausforderung. Doch mit viel Geduld und kleinen Schritten kommen wir oben an. Meine Mutter ist froh, erschöpft und sagt, dass sie »nach Hause« möchte.
    Wir trinken Kaffee, essen bei Kerzenlicht selbstgebackene Plätzchen und selbstgebackenen Christstollen. Wir freuen uns aneinander und
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