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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
Autoren: Joern Klare
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gelingt das, aber es ist falsch zu behaupten, durch eine Demenz sei kein Lebenssinn mehr möglich. Im Erwachsenenalter kann man gut verdrängen, dass Unvermögen und Hilfsbedürftigkeit, wie man sie als Kind oder im Alter erlebt, zum Menschsein dazu gehören. Es geht auch darum, Hilfe annehmen zu können. Ich hab es immer wieder als faszinierend erlebt, mit welch schwierigen Lebenssituationen Menschen umzugehen lernen. Das sollte man sich als mitten im Leben stehender Mensch ruhig einmal bewusst machen, bevor man solche Aussagen trifft. Und wenn man in diesem Zusammenhang über Demenz spricht, muss man auch über Dinge sprechen, die jenseits der Demenz liegen.
    Sie meint unter anderem unsere »Überbewertung der Intellektualität«, die Menschen mit Demenz zwangsläufig geringer schätzt als Menschen, die im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte sind. Ich erinnere mich an den portugiesischen Dichter Fernando Pessoa und an seinen Satz »Wenn mein Herz denken könnte, würde es stillstehen« und an »Was denkst du gerade?«, die Killerfrage jeder romantischen Begegnung. Bär weist darauf hin, dass in manchen Kulturen Demenz nicht als Krankheit, sondern als Teil des normalen Alterns begriffen wird, so wie es früher auch bei uns war.
    – Glauben Sie, dass es auch bei einer fortgeschrittenen Demenz möglich ist, mit anderen Menschen in Beziehung zu treten?
    – Ja, das ist möglich. Aber es geht auch darum, diese Kapazität zu realisieren. Wenn ein Mensch mit einer schweren Demenz in einer reizarmen Umgebung im Bett liegt, wie soll der mit irgendwas in Beziehung sein? Es musssich dabei ja gar nicht mal immer um eine andere Person handeln. Es kann auch die Natur oder eine Musik sein.
    Bär erzählt von Studien, laut denen selbst Menschen mit schwerster Demenz in der Lage seien, in ihrem Alltag positive Momente zu erleben. Dabei spielen abstrakte »Sinnebenen« kaum noch eine Rolle, während »unmittelbar sinnlich erfahrbare Qualitäten« in den Vordergrund treten. Ein bequemer Stuhl in der warmen Sonne ist da entschieden sinnvoller als ein interessanter Artikel im Feuilleton der Tageszeitung. Von außen ist es oft schwer festzustellen, was von den Betroffenen als erfüllend erlebt wird. Wenn jemand immer wieder Tassen stapelt oder ununterbrochen eine Serviette faltet, kann das für einen beobachtenden Angehörigen schlimm sein, von einem Menschen mit Demenz aber durchaus als sinnvoll erlebt werden. Ich denke daran, wie meine Mutter immer wieder mit einem stumpfen Messer ein Tischtuch bearbeitet oder mit einer Saftpfütze ihre »Kreativität auslebt«.
    – Kann man sich selbst als Noch-nicht-Betroffener auf eine Demenz vorbereiten?
    Bär überlegt etwas länger.
    – Man sollte schauen, dass man sich das bewahrt, was einem etwas bedeutet. Die Dinge, die das eigene Leben wirklich reich machen, gehen oft in der Hektik und in den Pflichten des Alltags unter. Ich finde für uns Gesunde auch den Gedanken interessant, Tagebücher anzulegen, in denen wir die Dinge benennen, die uns wichtig sind. So eine Art positive Patientenverfügung, damit die Angehörigen wissen, was sie für uns tun können, wenn wir diese Unterstützung brauchen, um Zugang zu diesen Dingen und Erlebnissen zu bekommen.
    Im Kopf gehe ich eine erste mögliche Liste durch. Die Nähe meiner Familie, Marzipankartoffeln, freundlicher und respektvoller Umgang, Sonnenlicht, nicht zu kleine Bettdecken, Wind und möglichst keine synthetischen Stoffe auf der Haut, Humor, Bergluft, Schwarzwälder-Kirsch-Torte, Schwimmen in nicht zu kaltem Wasser, Blicke in die Natur, frisches Obst …
    – Die anderen sollten wissen, was einem wichtig ist. Man muss darüber reden und das weitergeben.
    Ich frage mich, was den Menschen, die mir wichtig sind, wohl wichtig ist, und muss eingestehen, dass ich es sehr oft nicht weiß.
    – Das kann ja auch mal, von einer Demenz ganz abgesehen, positive Wirkungen haben.
    – Absolut. Es stellt sich die Frage, ob ich Vertrauenspersonen habe, die mir nah genug sind, dass ich ihnen das weitergeben möchte. Wenn ich die nicht habe, sollte ich mir überlegen, dass es vielleicht wichtig wäre, meinen Beziehungen mehr Raum zu geben, Nähe zuzulassen. Und wenn es solche Personen gibt, sollte ich mich auch als introvertierter Mensch überwinden, über die Dinge zu sprechen, an denen mir viel liegt. Das hat mich die Demenz gelehrt.
    Ich denke an die rasant wachsende Zahl der Singlehaushalte, frage mich, ob man für das, was Bär vorschlägt, eine
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