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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
Autoren: Joern Klare
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der aufgrund unglücklicher Umstände querschnittsgelähmt ist, den Rest seines Lebens im Rollstuhl verbringen wird und mit seinem Schicksal hadert.
    Fast schon zwangsläufig vergleichen mein Bruder und ich (mehr oder weniger bewusst) seine Situation mit der unserer Mutter. Die macht sich zum Beispiel keinerlei Sorgen um ihre finanzielle Lage, während das für meinen Vater immer wieder mal ein ernstes Thema ist.
    Wir schauen eine Western- DVD . Es ist spät, ich will nicht gehen. Wir haben selten die Gelegenheit, in Ruhe Zeit miteinander zu verbringen, meist ist etwas zu erledigen, zu organisieren, oder ich muss auf die Uhr achten, weil ich noch zu meiner Mutter will oder zum Zug nach Berlin muss. Ich will ihn noch was fragen, will wissen, was genau dahintersteckt, wenn er sagt, dass es vielleicht besser gewesen wäre, wenn er damals im Krankenhaus gestorben wäre, als wir um sein Leben rangen.
    – Sehnst du dich manchmal nach dem Tod?
    Er überlegt ganz ruhig.
    – Nein, nicht sehnen.
    – Was meinst du dann?
    – Ich glaube, ich würde mich nicht gegen den Tod wehren.
    Als er vor wenigen Tagen stationär behandelt wurde, erzählte er mir am Telefon von seinen Überlegungen, sich im Zweifelsfall nicht noch einmal operieren zu lassen.
    – Wenn man dir jetzt sagen würde: »Wir müssen Sie noch einmal operieren, es ist ein schwieriger Eingriff, aber wir haben die Chance, das hinzukriegen. Wenn nicht, sind Sie in drei Wochen tot …« Würdest du auf den Eingriff verzichten?
    – Ja.
    Ich weiß, dass mein Vater meint, was er sagt. Trotzdem hoffe ich, dass er sich vielleicht unterschätzt. Vielleicht unterschätze ich aber auch ihn.
    – Was meinst du damit?
    – Ich würde dann denken, dass ich es geschafft habe. Und dann ist gut.
    – Es geht dir darum, das Leben »zu schaffen«?
    – Ja, schon.
    Ich stutze, bin verwirrt und hole erst mal tief Luft. »Das Leben schaffen« … Nicht es genießen, seine Möglichkeiten ausschöpfen und all das. Obwohl ich ihn irgendwo verstehen kann, fällt es mir schwer, das zu akzeptieren. Ich bin noch nicht so weit. Dann reden wir über ein paar belanglose Dinge, und ich frage mich, wann ich eigentlich überfordert bin. Die Situation meiner Mutter ist nicht gerade ein Stimmungsaufheller, und mit meinem Vater möchte ich auch nicht tauschen. Seine Haltung deprimiert mich, und nicht immer kann ich dem etwas entgegensetzen. Wie wird es sein, wenn ich in ihrem Alter bin? Ich weiß es nicht. Es heißt doch »Ende gut, alles gut«. Und wenn das Ende nicht so gut ist? Ist dann alles schlecht?
    Dem US -amerikanischen Psychologen und Nobelpreisträger Daniel Kahneman zufolge beurteilen wir Erlebnisse unverhältnismäßig stark danach, wie sie ausgehen. Das jahrzehntelange Glück eines gelebten Lebens wird radikal entwertet, wenn es unschön, etwa durch einen Unfall odereine schwierige Krankheit, endet. Die Ursachen liegen, so Kahneman, in unserer Evolution begründet. Für das Überleben des Höhlenmenschen war weniger der Genuss entscheidend, als vielmehr, ob ein Abenteuer gut ausging oder nicht. Auf unser heutiges Leben bezogen spricht Kahneman aber von der »Tyrannei« des Erinnernden Ich über das Erlebende Ich. Im Sinne eines erfüllten Lebens plädiert er für eine Stärkung des Letzteren. Ich denke, dass meine doch stark gegenwartsbezogene Mutter immerhin von dieser Tyrannei schon recht weit befreit ist.
    Und ich möchte festhalten, dass ich ein gutes Leben habe, und wenn es früher oder (lieber) später härter wird, ist dieses Leben jetzt trotzdem gut. Ich sollte wohl nur besser nicht darauf hoffen, dass es am Ende mal ein Selbstläufer wird. Andreas Kruse hatte davon gesprochen, dass das Alter eine schwere Lebensphase sei, auf die man sich gut vorbereiten müsse. Von daher könnte ich das jetzt auch alles als eine Art Trainingslager sehen.
    Als ich am nächsten Tag das Krankenhauszimmer meiner Mutter betrete, lacht sie mich spontan und laut aus vollem Herzen an. Ich bin verblüfft, sollte mich wohl einfach nur freuen, kann es aber nicht lassen:
    – Weißt du, wer ich bin?
    – Nein, weiß ich nicht.
    Ihrem Gesichtsausdruck nach scheint es sie auch nicht weiter zu interessieren. Ich setze mich zu ihr, nehme ihre Hand in meine. Sie drückt fest zu. Es freut mich, ihre Kraft zu spüren. Mit meinem Daumen streichle ich ihren Handrücken. Sie schließt die Augen, schnurrt wie eine Katze. Das ist alles für heute, und es ist schön.

»Sinn bedeutet, in ›Beziehung
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