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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
Autoren: Joern Klare
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weh tut. Gelaufen ist sie heute nicht. Sie soll sich noch ein bisschen schonen. Ich bespreche mit einer Pflegerin, dass man es mit der Schonung nicht übertreiben dürfe. Ich habe Angst, dass man ihr zu wenig zumutet und sie nur noch im Rollstuhl herumgeschoben wird.
    – Hast du einen Wunsch?
    – Ja.
    – Was denn?
    – Weiß ich auch nicht.
    Die kleine Frau mit dem entzückenden Lächeln rollt im Stuhl an uns vorbei. »Gut, dass es nur eine Prellung ist«, sagt sie mit ihrer nur schwer zu verstehenden hohen, leicht kratzigen Stimme. »Wir haben uns schon Sorgen gemacht, es könnte etwas gebrochen sein.« Ich bin überrascht und gerührt. Dass es dieses »Wir« auf der Etage gibt, war mir nicht bewusst. Zudem hätte ich der Frau gar nicht zugetraut, dass sie das überhaupt mitbekommen hat.
    Ich bin allerdings nicht der Einzige, der in diesen Tagen etwas falsch einschätzt. Zwei Wochen später stellt sich heraus, dass der Oberschenkelhals meiner Mutter doch gebrochen ist.

Erinnerungen XV
    »Was würdest du dir für Mascha wünschen?«
    »Ach, für Mascha wünsche ich mir alles. Dass sie selbstbewusst ist. Das ist ganz wichtig, dass man selbstbewusst ist. Das hat mir immer gefehlt. Dass man weiß, was richtig ist. Dass man in sich ruht, dass man mit sich zufrieden ist. Das ist, finde ich, ganz, ganz wichtig. Bei mir ist es ja heute noch so, wenn ich was mache, und irgendjemand sagt, ›das hätte ich aber so und so gemacht‹, dann denke ich, ›Ach, hättest du es doch so und so gemacht‹. Das kann man nicht mehr aufholen. Ich hab mich vor Kurzem mit einer Freundin über bekannte Frauen unterhalten, die so alt sind wie wir und die einfach so selbstbewusst sind. Und da haben wir uns gesagt: ›Unsere Mütter haben uns so nicht großgezogen. Die haben uns kein Selbstbewusstsein vermittelt.‹«
    Mascha brabbelt vor sich hin.
    »Mascha muss merken, das merkt sie ja, wie sie geliebt wird. Wenn sie hinter dem steht, was sie macht und sich nicht anpasst, wie mit den doofen Schulen, in die ich gegangen bin.«
    Stille.
    »Es ist ja so. Ich hab ja schon oft gesagt: ›Wenn ich tot bin, bin ich tot.‹ Jetzt bin ich schon bei: ›Ich möchte wenigstens so lange leben, bis Mascha in die Schule kommt.‹ Und da sagte Egon, seine Mutter hätte immer gesagt: ›Bis Kommunion ist.‹ Aber das ist ja noch ein bisschen länger. Aber dass Mascha in die Schule kommt, möchte ich schon noch erleben. Bis sie Härchen hat und ob sie so süß bleibt. Und ob sie so fröhlich und lustig wie ihre Oma ist.«
    Mascha quäkt.
    »Maschamäuschen. Ich werde es leider nicht erleben, was aus dir wird.«

Das Leben schaffen
    Besuch im Krankenhaus. Nach dem Oberschenkelhalsbruch hat meine Mutter eine künstliche Hüfte bekommen. Sie liegt in einem Doppelzimmer. Als ich komme, macht sie die Augen auf.
    – Hallo!
    Sie lächelt.
    – Wer bin ich?
    – Ja, das kann ich Ihnen im Moment auch nicht sagen.
    Dass sie mich siezt, ist neu. Ich nehme es ihr nicht übel. Auf ihrem Nachttisch entdecke ich ein Heft mit Rätseln und Sudokus, es heißt Fitness für ein besseres Gedächtnis. Da hat es jemand gut gemeint. Allerdings etwas zu spät.
    – Wer bist denn du?
    Frage ich und verzichte dabei auf das Sie.
    – Ich bin jemand, dem man viel Gutes getan hat. Aber irgendwie fehlt noch ein ganzes Stück dazu.
    – Stück wozu?
    – Das kann ich jetzt auch nicht sagen.
    Sie schläft erneut ein. Nach einer guten Viertelstunde schaut sie mich wieder an.
    – Schön, wenn alles so vertraut ist.
    – Woran denkst du?
    – Kann ich nicht sagen, dieses und jenes dreht sich auch immer so schnell.
    Nach einer Weile.
    – Ich vermiss die Kleine.
    Die Krankenschwestern setzen sie in einen Rollstuhl. Ich schiebe meine Mutter auf den Fluren der Klinik spazieren. Sie ist unruhig und verwechselt mich mit meinem Vater.
    Sie will aufstehen.
    – Du kannst nicht aufstehen!
    – Warum?
    Ich erzähle ihr von dem Sturz, der Operation, der künstlichen Hüfte, der absolut notwendigen Schonung. Sie zeigt keine Reaktion. Dann wieder:
    – Karl, wir gehen! Komm!
    Ich fühle mich hilflos und bin diesmal froh, als meine Mutter zwei Stunden später wieder sicher in ihrem Bett liegt und ich das Krankenhaus verlassen kann.
    Ich fahre zu meinem Vater. Er wohnt in großzügigen eineinhalb Zimmern in einem schönen Heim am Rand von Münster. Auch er war wieder für ein paar Tage im Krankenhaus. Eine Vorsorgemaßnahme, es geht ihm gut. Das heißt: So gut es jemandem gehen kann,
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