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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
Autoren: Joern Klare
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Egon in Essen lebte, reagierte zunehmend irritiert, verunsichert und manchmal fast panisch. Ich reagierte genervt. Auch ich habe schon mal Termine vergessen, Dinge verlegt oder verloren. PIN -Nummern kann ich mir sowieso nicht merken. Und ich hatte zu jener Zeit, wie eigentlich immer, genug zu tun mit meiner Arbeit, meiner eigenen Familie, meinem Leben in Berlin. Selbst wenn ich versuchte, geduldig zu sein oder zumindest so zu wirken, ärgerte es mich, dass ich mich mit solchen Problemen meiner Mutter beschäftigen musste.
    War ein wenig Vergesslichkeit nicht völlig normal in ihrem Alter? Konnte sie sich die Dinge nicht einfach aufschreiben? War es tatsächlich nötig, mich damit behelligen? Erst viel später wurde mir klar, dass meine Mutter gespürt haben muss, dass dies der schleichende Anfang von etwas Neuem war, und dass sie bei meinem Bruder und mir Halt und Orientierung suchte.
    Hin und wieder rief Egon mich an, bat darum, meiner Mutter am Telefon zu erklären, dass das komfortable Einfamilienhaus direkt am Essener Grugapark, in dem die beiden seit mehr als zehn Jahren lebten, ihr Zuhause sei. Meine Mutter wollte auch mir das kaum glauben. Sie wirkte verzweifelt darüber, dass selbst ihr Sohn sie nicht verstand.Manchmal rief sie mich auch aus diesem Haus an und erzählte, dass sie sich in einem Hotel befinde, dass dort viele fremde Leute seien, dass es ihr aber gut gehe.
    Es kam vor, dass ich über solche »komischen Geschichten« lachen musste. Ich wollte das Problem verdrängen, was mir, im Nachhinein betrachtet, überraschend gut gelang. Doch vage, denke ich jetzt, muss ich den Schrecken, der da auf meine Mutter und auch auf mich zukam, schon geahnt haben.
    Dann fand sich meine Mutter außerhalb des Hauses nicht mehr zurecht, verlief sich auf dem vertrauten Weg zum nur wenige hundert Meter entfernten Lebensmittelgeschäft. So erzählte es mir Egon. Er selbst war über achtzig Jahre alt, schwer herzkrank und auf meine Mutter angewiesen. Die hatte sich in den letzten beiden Jahren zunehmend mit der Frage beschäftigt, wo und wie sie nach seinem Tod, der immer wieder befürchtet werden musste, leben würde.
    Indem sie sich nach vierzig Jahren von meinem Vater trennte, hatte sie ein neues Leben gewonnen, aber auch eine konkrete Heimat verloren, die durch den überschaubaren Rahmen im kleinen Hohenlimburg geprägt war. Ohne Partner dorthin zurückzukehren, konnte sie sich nicht vorstellen. Berlin war ihr, trotz der Liebe zu ihren Enkelinnen, fremd. Zu der Stadt Münster fehlte ihr, abgesehen von der Bindung zu meinem dort lebenden, vielbeschäftigten Bruder, der Bezug, und ob die über Egon geknüpften sozialen Beziehungen in Essen auch ohne ihn tragfähig sein würden, war unklar. Abgesehen davon war auch ihre finanzielle Situation nicht ganz geklärt. Obwohl mein vier Jahre älterer Bruder und ich zusicherten, sie zu unterstützen, machte sich meine zweiundsiebzigjährige Mutter offensichtlich große Sorgen um ihre Zukunft.
    Nachdem sie sich ein paarmal verlaufen hatte, verließ sie das Haus immer seltener und irgendwann gar nichtmehr allein. Die Einkäufe übernahm die Haushaltshilfe. Das Mittagessen wurde fertig angeliefert.
    Als ich sie, derart vorgewarnt, im Herbst 2009 wieder einmal besuchte, hatte ich mich mit meinem Bruder darüber verständigt, dass »das Problem ihrer Verwirrungen« gründlich medizinisch geklärt werden müsse. Bis dahin war meine Mutter das nur sehr zögerlich und unentschieden angegangen. Ab und an hatte sie sich irgendwelche Tabletten verschreiben lassen, ohne sich jedoch um eine gründliche Diagnose zu bemühen. Sie hatte Angst. Das war unverkennbar. Die ganze Familie hatte Angst vor der Wahrheit. Wir wollten uns nicht eingestehen, was nicht mehr zu übersehen war.
    Bei diesem Abendessen am 19. Oktober 2009 musste ich mich dem Drama meiner Mutter stellen. Sie hatte schon den ganzen Nachmittag nervös und unruhig gewirkt, was wir – Egon, meine Mutter, meine damals siebenjährige Tochter Mascha und ich – mehr oder minder erfolgreich überspielten. Nach dem Essen, das meine Mutter selbst zubereitet hatte, nahm sie ein paar Teller, stand auf, ging ein paar Schritte … und war verloren.
    Sie wusste nicht weiter, wusste nicht, wo sie hin sollte. Meine Mutter fand die fünf Meter und zwei Türen entfernte Küche nicht mehr. Ein Weg, den sie in den letzten Jahren Tausende Male gegangen war. Sie stand mitten im Zimmer, und vor ihr und vor uns allen öffnete sich ein Abgrund. Ich war
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