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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
Autoren: Joern Klare
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Jahre alten Muster »ich kann gehen« nichts anhaben. Die logische Folge ist akute Sturzgefahr, genauer gesagt: hundertprozentige Sturzwahrscheinlichkeit. Aber das heißt dann wohl schon Sturzsicherheit.
    Auf der anderen Seite neigen die Pflegerinnen dazu, meine Mutter festzusetzen, indem sie ihr das selbstständige Aufstehen möglichst schwer machen, was aber wiederum ihre Freiheit einschränkt. Doch was sollen sie machen mit zwei oder drei Pflegekräften für fünfundzwanzig Bewohner, von denen die meisten mehr oder weniger stark dement sind? Was soll die Heimleitung machen mit einem begrenzten Budget und einem per Gesetz festgelegten Pflegeschlüssel, der nicht mehr Pflegekräfte im Wohnbereich meiner Mutter ermöglicht? Es ist offensichtlich, dass die Pflegerinnen und Pfleger unter diesen letztlich von der Politik vorgegebenen Bedingungen nicht alle Aufgaben und Anforderungen optimal erfüllen können. In diesem System basiert gute Pflege auf der Bereitschaft zur Selbstausbeutung. Deswegen fällt es mir schwer, eine Pflegekraft zu kritisieren. Doch im Interesse meiner Mutter komme ich nicht umhin, ab und an auf einen Mangel oder eine Unachtsamkeit hinzuweisen. Bisher hatte meine Mutter immer noch einen Schutzengel und eben auch diese dezent unter der Hose angebrachten Hüftpolster. Engel und Polster waren heute Morgen dann aber auch zusammen einfach mal überfordert.
    Sie hat Schmerzen und muss zum Röntgen ins Krankenhaus. Es geht um den Oberschenkelhalsknochen, dessen Verletzung im übertragenen Sinn schon vielen alten Menschen das Genick gebrochen hat, weil er ihnen eine lange Bettlägerigkeit und dann irgendwann eine Lungenentzündung oder dergleichen Todbringendes eingebrockt hat. Im Krankenhaus muss meine Mutter immer wieder mehr oder weniger lang warten. Auf die Aufnahme in der Ambulanz, auf das Röntgen, auf die Begutachtung der Röntgenbilder in der Ambulanz, auf den Rücktransport ins Heim. Dass ich in Münster bin und sie begleiten kann, ist im Grunde reiner Zufall. Doch wäre ich nicht hier, wäre meine Mutter allein dem typischen Krankenhaussystem ausgeliefert, das zwar mehr oder minder hochtourig funktioniert, aber damit überfordert ist, einer Frau, die an normalen Tagen im Heim kaum mitkriegt, was los ist, eine geduldige Fürsorgezu bieten. Ich diesem Funktionsablauf bekommt ihre Akte mehr Aufmerksamkeit als sie selbst.
    Schön wäre da so etwas wie ein Würdometer . Es könnte an einer Schmuckkette um den Hals meiner Mutter hängen. Ein Würdometer (von mir aus auch eine App), das blinkt und piept, wenn die Würde meiner Mutter nicht beachtet wird, wenn man sie kommentarlos in einen Raum schiebt, den sie nicht kennt, wenn man sie in einer Situation, die sie nicht mehr erfasst, mit ihrer Verwirrung und ihren Schmerzen allein lässt. Sie ist ein Objekt in einer Gesundheitsmaschine, kein Mensch, dem man auf Augenhöhe zu begegnen versucht. Dass das alles ganz sicher nicht böse gemeint ist, macht es für meine Mutter nicht besser. Das Würdometer , so denke ich, würde wegen Dauerverletzung gar nicht mehr aufhören zu blinken und zu piepen, und deswegen sollte es vielleicht zusätzlich kleine Notsignal-Rettungsraketen abfeuern können.
    Schließlich kann der Arzt auf den Röntgenbildern nichts Schlimmes erkennen. Der Hals ihres Oberschenkels scheint nur geprellt. Dafür ist sich der Mediziner so gut wie sicher, dass meine Mutter nicht nur eine Demenz hat, sondern auch an Parkinson leidet.
    Parkinson.
    Ich muss an Muhammed Ali denken. Noch so etwas, was man nicht will und nicht braucht. Wo bitte schön kann man sich bei der Desaster-Ausgabestelle abmelden? Es reicht.
    Und doch: Was unter »normalen« Umständen eine »richtige« Katastrophe in der Art eines Getriebeschadens wäre, kommt meinem Bruder und mir eher wie eine kleine Beule vor. Es muss ja weitergehen, und es geht weiter.
    Als wir an diesem Tag endlich wieder im Heim sind, ist auch die nette junge Pflegerin da, die sich ganz offensichtlich freut, meine Mutter wiederzusehen. Als ich meiner Mutter dann zum Abschied über die Wangen streiche, belohnt sie uns mit einem aufrichtigen »Ihr seid so lieb«.Dass sie dies mit einem etwas überraschten Gesichtsausdruck tut, irritiert mich allerdings noch auf dem Heimweg.
    Am nächsten Tag treffe ich meine Mutter wieder im Sessel vor dem Aufenthaltsraum an. Sie schläft. Als sie aufwacht, erkennt sie mich. An unseren Besuch im Krankenhaus kann sie sich nicht erinnern, sie sagt aber, dass ihr der Arm
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