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Just Kids

Titel: Just Kids
Autoren: Patti Smith
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    Vorwort

    ICH SCHLIEF, ALS ER STARB. ICH HATTE IM KRANKENHAUS angerufen, um ein letztes Mal Gute Nacht zu sagen, aber er war weggedämmert, eingehüllt in einen Mantel aus Morphium. Ich hielt den Hörer noch in der Hand und lauschte seinen mühsamen Atemzügen. Es würde das Letzte sein, was ich von ihm hörte, das wusste ich.
    Später ordnete ich still meine Sachen, mein Notizbuch und meinen Füllfederhalter. Das kobaltblaue Tintenfass, das ihm gehört hatte. Meinen persischen Becher, mein Purpurherz, ein Tellerchen mit Milchzähnen. Ich stieg langsam die Treppe hoch und zählte dabei jede Stufe, alle vierzehn, eine nach der anderen. Ich deckte das Baby im Kinderbett zu, küsste meinen schlafenden Sohn, legte mich zu meinem Ehemann und sprach meine Gebete. Noch lebt er, flüsterte ich, daran erinnere ich mich noch. Dann schlief ich ein.
    Ich wurde früh wach, und als ich die Treppe hinunterging, wusste ich, dass er tot war. Alles war still, bis auf den laufenden Fernseher, den jemand über Nacht angelassen hatte. Auf einem Kultursender lief eine Oper. Es zog mich zum Bildschirm, alsTosca voller Inbrunst und Verzweiflung ihre Liebe zu dem Maler Cavaradossi bekundete. Es war ein kalter Märzmorgen, und ich streifte mir einen dicken Pullover über.
    Ich zog die Jalousien hoch, und mein Arbeitszimmer füllte sich mit Licht. Ich glättete den schweren Leinenüberwurf auf meinem Sessel und nahm ein Buch mit Gemälden von Odilon Redon zur Hand; die Seite, die ich aufschlug, zeigte den Kopf einer jungen Frau, über einer Wasserfläche schwebend. Les yeux clos. Hinter ihren blassen Lidern verbarg sich ein noch unberührtes Universum. Das Telefon klingelte, ich stand auf und nahm den Anruf entgegen.
    Es war Edward, Roberts jüngster Bruder. Er sagte, er habe Robert einen letzten Kuss von mir gegeben, wie versprochen. Ich stand da wie erstarrt, dann ging ich langsam, wie in einem Traum, zu meinem Sessel zurück. In diesem Moment begann Toscas große Arie Vissi d’Arte . Ich lebte für die Liebe, ich lebte für die Kunst. Ich schloss die Augen und faltete die Hände. Die Vorsehung hatte bestimmt, wie ich Abschied nehmen würde.

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    ALS ICH GANZ KLEIN WAR, MACHTE MEINE MUTTER MIT MIR oft Spaziergänge im Humboldt Park am Prairie River entlang. Ich habe vage Erinnerungen – wie Bilder auf alten Fotoplatten – an ein altes Bootshaus, einen runden Orchesterpavillon, den Bogen einer Steinbrücke. Der schmale Lauf des Flüsschens mündete in eine weite Lagune, auf deren Wasserspiegel sich mir ein einzigartiges Schauspiel bot. Ein langer, geschwungener Hals entsprang einem weißen Federkleid. Es trappelte auf dem klaren Wasser, schlug mit seinen großen Flügeln und erhob sich in den Himmel.
    Schwan, sagte meine Mutter, die meine Erregung spürte.
    Aber das bloße Wort gab weder die Großartigkeit des Geschöpfs wieder noch wurde es der Gemütsbewegung gerecht, die es hervorrief. Bei seinem Anblick regte sich ein Impuls in mir, für den ich keine Worte hatte, ein Verlangen, von dem Schwan zu sprechen, etwas über sein Weiß zu sagen, die Explosivität seiner Bewegungen, den langsamen Schlag seiner Flügel.
    Der Schwan wurde eins mit dem Himmel. Ich rang um Worte, die beschrieben, was er für mich bedeutete. Schwan, wiederholteich nicht ganz zufrieden, und ich spürte ein Zwicken, eine neugierige Sehnsucht, klein und unsichtbar für alle Passanten, meine Mutter, die Bäume oder die Wolken.

    Ich bin an einem Montag auf der North Side von Chicago geboren, während des Großen Blizzards von 1946. Ich kam einen Tag zu früh, denn an Silvester geborene Babys brachten aus dem Krankenhaus einen neuen Kühlschrank mit. Meine Mutter hätte mich gern noch in sich behalten, doch als das Taxi in wirbelndem Schnee und Wind den Michigansee entlangkroch, setzten bei ihr die Presswehen ein. Wie mein Vater erzählte, kam ich als langes, knochiges Etwas mit Lungenentzündung auf die Welt und blieb nur am Leben, weil er mich über eine dampfende Waschschüssel hielt.
    Meine Schwester Linda folgte bei einem weiteren Blizzard im Jahr 1948. Ich lernte schnell, auf mich selbst aufzupassen, es ging gar nicht anders. Meine Mutter bügelte für andere, während ich auf dem Treppchen vor unserem Wohnheim saß und auf den Eismann mit einem der letzten Pferdefuhrwerke wartete. Er gab mir in braunes Packpapier gewickelte Eisstückchen, und ich steckte immer eins davon für meine kleine Schwester in die Tasche. Doch wenn ich später danach
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