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Just Kids

Titel: Just Kids
Autoren: Patti Smith
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mich danach, sie alle zu lesen, und alles, was ich las, weckte wieder neue Sehnsüchte. Ich würde vielleicht nach Afrika gehen und Albert Schweitzer meine Dienste anbieten, oder mit Waschbärmütze und Pulverhorn wie Davy Crockett die armen Landbesetzer verteidigen. Ich könnte den Himalaja durchstreifen und in einer Höhle leben, die Gebetsmühle kreisen lassen, damit die Welt sichweiterdrehte. Aber der Drang, mich auszudrücken, war meine ausgeprägteste Sehnsucht, und meine Geschwister wurden meine ersten Mitverschwörer beim Plündern meiner Fantasiewelt. Sie lauschten gebannt meinen Geschichten, führten willig meine Stücke auf, und kämpften tapfer in meinen Kriegen. Solange ich sie hinter mir wusste, schien alles möglich zu sein.
    In den Frühlingsmonaten war ich oft krank, und mir wurde Bettruhe verordnet, sodass ich draußen vor dem offenen Fenster meine Spielkameraden nur hören konnte. In den Sommermonaten erstatteten die Jüngeren mir am Bett Meldung, wie viel von unserem Terrain gegen den Feind gehalten werden konnte. In meiner Abwesenheit verloren wir viele Schlachten, und meine müden Truppen versammelten sich um mein Bett, wo ich sie mit Segenssprüchen aus der Bibel des Kindersoldaten, R. L. Stevensons Im Versgarten , erbaute.
    Im Winter bauten wir Schneeburgen, und ich führte als Oberkommandierende unsere Feldzüge an, zeichnete Karten und entwarf Schlachtpläne, während wir vorrückten oder uns zurückzogen. Wir führten die Kriege unserer irischen Großväter, der orangefarbenen und der grünen. Wir trugen das Orange, aber kannten dessen Bedeutung nicht. Es waren einfach unsere Farben. Wenn die Konzentration nachließ, erklärte ich einen Waffenstillstand und ging meine Freundin Stephanie besuchen. Sie erholte sich langsam von einer Krankheit, die ich nicht ganz verstand, einer Form von Leukämie. Stephanie war älter als ich, sie ungefähr zwölf und ich ungefähr acht. Ich hatte ihr nicht viel zu sagen und war wahrscheinlich keine große Hilfe, dennoch schien sie sich über meine Anwesenheit zu freuen. Ich glaube, mich zog eigentlich nicht mein gutes Herz zu ihr hin, ich war einfach fasziniert von ihren Besitztümern. Ihre ältere Schwester hängte meine nassen Sachen auf und brachte uns Kakao und Grahamcracker auf einem Tablett. Stephanie lehnte gegen ihren Berg von Kissen, während ich ihr haarsträubende Geschichten erzählte und ihre Comics las.
    Ich bestaunte ihre Comicsammlung, ganze Stapel, die eine Kindheit im Bett ihr eingebracht hatten, jede Nummer von Superman, Little Lulu, Classic Comics und House of Mystery. In einer alten Zigarrenkiste bewahrte sie sämtliche Bettelarmband-Anhänger von 1953 auf: ein Rouletterad, eine Schreibmaschine, einen Schlittschuhläufer, den roten Mobil -Pegasus, den Eiffelturm, einen Spitzenschuh und Anhänger mit den Umrissen aller achtundvierzig Staaten Amerikas. Ich konnte ewig damit spielen, und manchmal schenkte Stephanie mir einen, den sie doppelt hatte.
    Ich hatte ein Geheimversteck neben meinem Bett, unter den Bodendielen. Dort bunkerte ich meine Schätze – gewonnene Murmeln, Sammelkarten und Devotionalien, die ich aus katholischen Mülltonnen rettete: alte Heiligenbildchen, abgetragene Skapuliere, Gipsheilige mit abgestoßenen Händen und Füßen. Dort versteckte ich auch, was ich bei Stephanie erbeutet hatte. Irgendein Instinkt sagte mir, dass ich mir von einem kranken Kind nichts schenken lassen sollte, aber ich nahm es und versteckte es dann, weil ich mich dafür schämte.
    Ich hatte versprochen, sie am Valentinstag zu besuchen, aber ich tat es nicht. Meine Pflichten als General meiner Truppen aus meinen Geschwistern und den Jungen der Nachbarschaft nahmen mich sehr in Anspruch, und wir hatten mit heftigem Schneefall zu kämpfen. Es war ein harter Winter in diesem Jahr. Am darauffolgenden Nachmittag verließ ich meinen Posten, um mich, zu ihr zu setzen und Kakao zu trinken. Sie war sehr still und bat mich, noch zu bleiben, bis sie eingeschlafen war.
    Ich stöberte in ihrer Schmuckschatulle. Sie war rosa, und wenn man sie aufklappte, drehte sich darin eine Ballerina wie die Zuckerfee. Ich war so angetan von einem bestimmten Eiskunstlauf-Anstecker, dass ich ihn in meinem Fäustling veschwinden ließ. Ich saß lange wie erstarrt neben Stephanie und brach leise auf, als sie schlief. Ich bunkerte den Anstecker in meinem Geheimversteck. In der Nacht schlief ich unruhig und bereute bitter, was ich getanhatte. Ich gelobte, den Anstecker
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