Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Just Kids

Titel: Just Kids
Autoren: Patti Smith
Vom Netzwerk:
Vorstellung, nicht berufen zu sein, dagegen sehr.
    Ich schoss plötzlich etliche Zentimeter in die Höhe. Ich war einsfünfundsiebzig und wog dabei kaum fünfundvierzig Kilo. Mit vierzehn war ich nicht länger der Kommandant einer kleinen, aber loyalen Truppe, sondern eine knochige Verliererin, das Objekt mannigfachen Spotts, das sich an die unterste Sprosse der sozialen Leiter unserer Highschool klammerte. Ich versteckte mich hinter Büchern und Rock’n’Roll, die Rettung für Pubertierende im Jahr 1961. Meine Eltern arbeiteten nachts. Nachdem wir unsere Pflichten im Haushalt und unsere Hausaufgaben erledigt hatten, tanzten Toddy, Linda und ich zu James Brown, den Shirelles, Hank Ballard and the Midnighters und anderen. Ich kann mit aller Bescheidenheit sagen, dass wir uns auf der Tanzfläche genauso gut schlugen wie auf dem Schlachtfeld.
    Ich zeichnete, ich tanzte, und ich schrieb Gedichte. Ich war nicht begnadet, aber fantasiebegabt, und meine Lehrerermutigten mich. Als ich einen Wettbewerb gewann, den das Sherwin-Williams-Farbengeschäft am Ort ausgeschrieben hatte, wurde mein Werk im Schaufenster ausgestellt, und ich hatte genug Geld zusammen, um mir einen hölzernen Malerkasten und einen Satz Ölfarben zuzulegen. Ich durchsuchte Büchereien und Kirchenbasare nach Kunstbänden. Damals bekam man herrliche Ausgaben beinahe nachgeschmissen, und ich vertiefte mich glücklich in die Welt von Modigliani, Dubuffet, Picasso, Fra Angelico und Albert Ryder.
    Meine Mutter schenkte mir zu meinem sechzehnten Geburtstag Das wunderbare Leben des Diego Rivera. Ich war entzückt vom Ausmaß seiner Wandgemälde, der Murales, von den Schilderungen seiner Fahrten und Abenteuer, seinen Affären, seiner Arbeit. In diesem Sommer fand ich einen Job in einem gewerkschaftslosen Betrieb, in dem ich Lenker für Dreiräder überprüfen musste. Dort zu arbeiten war das Letzte. Ich flüchtete mich während der Akkordarbeit in Tagträume. Ich ersehnte den Einlass in die Bruderschaft der Künstler: den Hunger, ihren Kleidungsstil, ihre Arbeitsweisen und Gebete. Ich brüstete mich, dass ich eines Tages Geliebte eines Künstlers sein würde. Nichts erschien meinem jungen Geist romantischer. Ich sah mich als Frida neben Diego, Muse und Schöpferin zugleich. Ich träumte davon, einen Künstler lieben und unterstützen zu können und Seite an Seite mit ihm zu arbeiten.

    Robert Mapplethorpe wurde am Montag, den 4. November 1946 geboren. Aufgewachsen ist er in Floral Park, Long Island, als drittes von sechs Kindern. Er war ein verschmitztes Kerlchen, dessen sorglose Jugend zart angehaucht war von der Begeisterung für alles Schöne. Seine jungen Augen archivierten jedes Spiel des Lichts, das Funkeln eines Schmucksteins, einereich verzierte Altardecke, den Glanz eines Saxofons oder ein Feld blauer Sterne. Er war anmutig und schüchtern, doch zugleich ein unbeirrbarer Charakter. Schon in ganz jungen Jahren regte sich in ihm die Lust am Aufbegehren.
    Das Licht fiel auf die Seiten seines Malbuchs, über seine Kinderhände. Das Malen mit Buntstiften faszinierte ihn, nicht das Ausmalen der einzelnen Felder an sich, sondern die Auswahl von Farben, für die sich sonst niemand entschieden hätte. Im Grün der Hügel sah er Rot. Violetter Schnee, grüne Haut, silberne Sonne. Er genoss den Effekt, den das auf andere hatte, dass es seine Geschwister verstörte. Er entdeckte sein Zeichentalent. Er war der geborene Zeichner, und er verzerrte und abstrahierte heimlich seine Skizzen, spürte seine wachsenden Kräfte. Er war Künstler, und er wusste es. Es war keine kindliche Einbildung. Er stellte lediglich eine Tatsache fest.
    Das Licht fiel auf die Einzelteile von Roberts geliebtem Schmuckbastelset, auf die Emaillefläschchen und winzigen Pinsel. Er hatte geschickte Finger. Er hatte Freude daran, für seine Mutter Broschen zu basteln und zu verzieren. Er scherte sich nicht darum, dass es eigentlich eine Beschäftigung für Mädchen war, die traditionell derartige Schmucksets zu Weihnachten bekamen. Sein älterer Bruder, ein Sport-Ass, lachte ihn aus, wenn er ihn damit beschäftigt sah. Seine Mutter Joan, kettenrauchend, bewunderte ihren Sohn, wie er am Tisch saß und konzentriert eine weitere Halskette aus winzigen Glasperlen für sie auffädelte. Sie waren Vorläufer der Ketten, die er selbst trug, nachdem er sich mit seinem Vater überworfen hatte, als er im Sog von LSD die katholischen, kommerziellen oder militärischen Lebensentwürfe hinter sich ließ, um
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher