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Lyra: Roman

Lyra: Roman

Titel: Lyra: Roman
Autoren: Christoph Marzi
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ERSTES KAPITEL
    Die Ballade von Sailor und Sunny
    Then she steps into the river And I just stand by the moon Thinking 'bout a ghost I hear at night And she says: »Your first sin was a lie you told yourself.«
    THE GASLIGHT ANTHEM, The Navesink Banks
    Die meisten Lügen sind wie Träume, die ein Kind sich singt, um nicht allein zu sein. Sie sind wie fremde Länder, die zu erforschen keinen Sinn hat, weil niemand wirklich die Sprache spricht, die einen dort sicher reisen lässt. Keiner wusste das besser als Danny Darcy. Hat man erst einmal einen Schritt in diese Gefilde getan, dann ziehen einen die kunstvoll gesponnenen Geschichten in einen Sumpf aus spinnennetzartigen Erinnerungen, die alles an sich binden, was einem jemals Leben war. Und die Lieder, die man fortan singt, werden schwer wie der Regen, der an warmen Sommertagen zu weißem Dampf über den Wassern wird, jenen Wassern, in denen sich noch immer zitternd Gewitterwolken spiegeln.
    Dessen eingedenk fühlte sich Danny Darcy an jenem Tag wie eine Gitarre, deren Saiten fast alle gerissen waren.
    Nichts war mehr so, wie es sein sollte.
    Das Leben, das ihm wie ein kostbares Lied gewesen war, hatte seine Stimme verloren.
    Alles, was seit Tagen schon in ihm klang, war dumpf und schal geworden. Die Welt war ein müder Blues mit einer Stimme, die von Rauch und Whiskey krächzte wie ein Gebäude, dessen Wände dem Sturm nicht langer standzuhalten vermögen.
    »Oh, Sunny.« Das waren die einzigen Worte, die ihm über die Lippen kamen. Er dachte an den Song, den er damals geschrieben hatte, als ihm Sunny über den Weg gelaufen war. Die wunderbare Suzanna Sutcliffe, die sich Soozie nannte und von denen, die ihren Sonnenschein erkannten, allzeit Sunny gerufen wurde.
    My sweet Laura Lee, Er schloss die Augen und ließ den kühlen Wind seine Haut berühren und sein dunkles Haar zerzausen. Die Melodie des Songs war noch immer da, als sei sie ihm gerade durch die Finger geflossen.
    Life lay in your eyes,
    in your smile and your anger and voice.
    Dann blinzelte er ins Licht der bald untergehenden Sonne.
    Jemand, der ihn dort hätte stehen sehen, wäre unweigerlich an alte englische Lieder erinnert worden. An Balladen, die Hobos unterwegs auf ihren Gitarren und Mundharmonikas spielen, wenn überall die Sonne am Horizont versinkt und das weite Land in braune und rote Farben taucht. An Geschichten, in denen Männer einsam an den steilen Klippen stehen und aufs Meer hinausblicken, schweigsam, mit bitterem Salz auf den Lippen, die Augen zusammengekniffen, weil die Sonne die Gischt berührt und Traumbilder funkeln lässt.
    My sweet Laura Lee.
    Ein ganzes Leben hatte er in diesem Song heraufbeschworen. Er hatte ihn ihr vorgesungen, am Ufer des Rod Lake Creek, wo sie damals gezeltet hatten. Es war das Lied ihrer Liebe und von allem, was noch vor ihnen liegen sollte.
    Life was there
    'cause ofyou.
    Und jetzt?
    Er schaute den Möwen hinterher, die über den Wellen im Wind segelten.
    Sunny war fort.
    Seit Wochcn schon.
    Die Scherben lagen überall herum. Unter jedem Schritt knirschten sie, leise Schreie, erstickt und krächzend und anklagend. Der dunkle Rhythmus, zu dem er regungslos dastand und den Gedanken nachhing, die nicht mal der Wind mit sich nehmen wollte.
    Ja, Danny war noch hier, vor dem alten Leuchtturm, dessen Lichter schon lange nicht mehr über die sanften Wogen des Lake Superior glitten.
    Von dort, wo er stand, konnte er die Apostle Islands sehen, zweiundzwanzig Eilande, die ihren Namen den französischen Missionaren aus dem siebzehnten Jahrhundert verdankten, die sich in dieser Gegend angesiedelt und irrtümlicherweise nur zwölf Inseln gezählt hatten. Da draußen gab es noch immer viele Schiffe, die Duluth ansteuerten, weil sie dort festmachen konnten.
    Danny seufzte.
    Davon sollte er singen. Genau davon wollte er singen.
    Von den Männern, die nach Hause kommen. Von der glasklaren Liebe, die sie in den Augen ihrer Frau erkennen, von dem Glück, das jedes Wort sogar im Streit verheißt.
    Danny schüttelte den Kopf.
    Das dunkle schulterlange Haar trug er jetzt offen, der Vollbart, der zwischenzeitlich sein Gesicht bedeckt hatte, war wieder verschwunden und nur ein schmales Kinnbärtchcn geblieben. Um den Hals trug er ein Lederband mit einem Stein, den Sunny ihm geschenkt hatte.
    Seit Wochen hatte er nicht mehr arbeiten können.
    Billy Ray Asther, sein Agent aus Nashville, hatte ihm vor nicht mal einer Stunde die Hölle heißgemacht: »Du hast gerade vier Songs, und wir
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