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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
Autoren: Joern Klare
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singen oder brummen die üblichen Lieder. »Alle Jahre wieder«, »Stille Nacht« … Bei den ebenfalls üblichen Textunsicherheiten hilft uns das Gedächtnis unserer Mutter. Sie tut das gern, scheint die ganze Veranstaltung auch interessant zu finden und sagt, dass sie »nach Hause« möchte. Wir sind ein wenig betreten und versuchen, die Situation zu überspielen, erzählen ihr von dem Fondue, das es traditionell später noch geben wird. Meine Mutter freut sich, bearbeitet die Tischdecke mit der Kuchengabel – und will »nach Hause«.
    Wir bringen sie zum Sofa, helfen ihr beim Hinlegen, decken sie zu. Die Familie hat sich an die Demenz unserer Mutter gewöhnt. Wir sind ein eingespieltes Team. Mascha legt sich zu ihr. Meine Mutter freut sich. Sie lacht leise und tief in sich hinein und leise und tief wieder hinaus. Irgendwas scheint ihr riesigen Spaß zu machen. Dann will sie »nach Hause«. Mascha bietet an, ihr vorzulesen. Meine Mutter hört zu, unterbricht dann aber: »Hör mal auf zu quasseln. Ich will auch mal was sagen.« Mascha lächelt das weg und spielt mit ihr das alte gemeinsame Lieblingsspiel »Kosmetiksalon«, was bedeutet, dass sie die Hand ihrer Oma mit reichlich Feuchtigkeitscreme verwöhnt.
    Wenn sie noch einmal »nach Hause« will, denke ich, werde ich sie fahren. Es ist dann ihr Wille, egal, was wir uns für sie gedacht, für sie gewünscht und für sie vorbereitet haben, und auch egal, dass so etwas früher unvorstellbar gewesen wäre. Zum Glück lässt sie aber von der Idee ab, lässt sich weiter mit geschlossenen Augen die Hände maniküren und lacht sich lieber wieder ganz zart über was auch immer kaputt. Dann gibt es Fondue. Während ich ihr mit ihrem Teller helfe, bedient sie sich von meinem.
    Der Heilige Abend kann ein sehr gemütliches Familienfest sein. Der heutige ist etwas anders. Nach dem Essen will meine Mutter »nach Hause«, und ich bringe sie ins Heim.
    – Hast du Pläne, Mama?
    Wir sitzen im Auto.
    – Im Moment nicht so.
    – Und Wünsche?
    – … Frieden.
    – Machst du dir Sorgen?
    – Nein. Höchstens um dich.
    Das ist nett, aber eigentlich nicht nötig.
    – Wie alt möchtest du werden?
    – Mhm … Ich will leben, bis ich neunzig bin.
    An der Tür werden wir von einer netten Pflegerin empfangen. Meine Mutter wirkt erleichtert. Das ist schön. Ich sage »Auf Wiedersehen«.
    Den Moment für eine andere Art von Abschied haben wir längst verpasst. Ein Abschied, in dem beide über das Bewusstsein für die Situation und für sich selbst verfügen, ist nicht mehr möglich. Ich meine einen Abschied, wie ihn Pascal Mercier in dem Roman Nachtzug nach Lissabon beschreibt: »Ein echter Abschied müsste eine Begegnung sein, […] der Versuch zu einem Einverständnis zu kommen, wie es mit Dir, mit mir, mit uns gewesen ist. […] Einzugestehen, was geglückt und was gelungen ist. Anerkennung dessen, was unmöglich ist.«
    Einen solchen Abschied lässt die Demenz nicht zu.

Erinnerungen XVII
    »Das war doch auch ein Thema für dich, dass Mascha ein Mädchen ist und kein Junge?«
    »Ja, das ist besonders schön. Das hat mich so gefreut. Als du vor knapp einem Jahr das Ultraschallbild auf den Tisch legtest, habe ich das erst nicht kapiert. Ich hatte da gar nicht mit gerechnet. Früher dachte man, ›Ach, mit einem Mädchen hast du so viele Sorgen‹. Aber da sagte man auch ›Jungens müssen in den Krieg‹.«
    Mascha brüllt jetzt richtig.
    »Ja, Mädchen brauchen nicht in den Krieg.«

Alles ist jetzt
    Demenz macht Angst.
    Angst ist der größte Risikofaktor für gute Hirnleistungen.
    Schön, dass es auch gute Nachrichten gibt:
    Neun von zehn Menschen jenseits der fünfundsechzig sind nicht dement. Das persönliche Risiko, pflegebedürftig zu werden, sinkt. Nach einer Langzeitstudie des Deutschen Alterssurveys aus den Jahren 1996 bis 2008 werden ältere Menschen insgesamt immer gesünder, aktiver und zufriedener mit ihrem Leben.
    Und wenn, so der Statistikprofessor Gerd Bosbach, die Produktivitätssteigerung je Arbeitnehmer jährlich nur um ein Prozent steigt, könnte jeder Beschäftigte im Jahr 2060 dreißig Prozent Rentenbeitrag zahlen und seine verbleibenden Einnahmen selbst unter Berücksichtigung der Preissteigerung im Vergleich zu heute noch um über vierzig Prozent steigern. Allerdings nur, wenn sich die Verteilung der Gewinne zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern nicht weiter zugunsten Letzterer ändert. Wer von Knappheit spricht, sollte diese Fragen der Verteilung
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