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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
Autoren: Joern Klare
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nicht verschweigen. Bosbach, der auch als Wissenschaftler im Statistischen Bundesamt gearbeitet hat, rät zu einem kritischen Umgang mit den Zukunftsprognosen, die uns vorgelegt werden.
    Für mich ist das eine kleine Hoffnung. Für meine Mutter spielt es keine Rolle.
    Menschen mit Demenz brauchen unseren Schutz, unsere persönliche Fürsorge und unsere Solidarität. Wenn Philosophen und auch Verfassungsrechtler wachsende Schwierigkeiten haben, einen allgemein verbindlichen Anspruch auf Würde zu begründen, sind wir persönlich und als Gesellschaft umso mehr gefordert, die Würde des Menschen im Allgemeinen und die Würde der Menschen mit Demenz im Besonderen zu achten. Diese Aufgabe hat längst begonnen. Der wachsende Einfluss schwieriger ökonomischer Rahmenbedingungen auf das Selbstverständnis unserer Gesellschaft macht diese Herausforderung nicht kleiner. Im Gegenteil.
    Jenseits der Fragen zur Demenz gibt es dazu einen schönen jüdischen Witz über einen frisch Verstorbenen, der sich nicht zwischen Himmel und Hölle entscheiden kann. Also lässt er sich beides zeigen. In der Hölle drängen sich hungrige Menschen um einen riesigen Tisch, in dessen Mitte ein duftender Eintopf steht. Jeder hat einen sehr langen Löffel, der einerseits bis an den Topf reicht, andererseits aber, weil er die Armlänge übertrifft, zu lang ist, die Speise auch in den eigenen Mund zu befördern. Die Menschen sind verzweifelt. Im Himmel begegnet der Mann dann genau dem gleichen Ausgangsszenario, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass sich hier die Menschen mit ihren langen Löffeln gegenseitig das Essen reichen und glücklich sind.
    »Wenn ganz am Ende des Verlaufs nur noch ein Zehntel der ursprünglich vorhandenen Zellen arbeitsfähig ist, sind meist schon der eigene Name und das Geburtsdatum vergessen. Schließlich versiegt auch das Gefühl für Hunger und Durst, das biologische System bricht zusammen. Das Leben endet.« So beschreibt Hans Lauter das Ende eines Lebens mit Demenz, soweit nicht eine Lungenentzündung, ein Nierenversagen oder sonst eine andere »ganz gewöhnliche« Todesursache dieses Ende herbeiführt.
    Ich weiß nicht, ob das ein »schöner Tod« ist. Ich weiß ja nicht mal, ob es so was wie einen »schönen Tod« überhaupt gibt. Ich weiß nur, dass jedes biologische System irgendwann zusammenbricht, dass jedes Leben endet.
    Doch meine Mutter lebt. Sie isst, sie schläft, sie atmet, sie freut und sie ärgert sich, manchmal hat sie wohl auch Sorgen. Nachdem wir erst spät gemerkt haben, wie entzückt sie auf schöne Musik reagiert, haben wir ihr jetzt einen kleinen MP 3-Player mit guter Musik geschenkt. Immer wieder mal setzen wir oder die Pflegerinnen ihr die Kopfhörer auf, und meine Mutter entspannt sich.
    Ich weiß nicht, inwieweit sie noch zu verstehen versucht, wer sie ist, wo sie ist und was alles um sie herum passiert. Ich hoffe, dass sie von solchen Sorgen schon weitgehend befreit ist oder irgendein gutes Arrangement für sich getroffen hat.
    »Der Demenzkranke gibt uns die Chance zu sehen, dass Autonomie und Selbstbestimmung nicht das Ganze unserer Existenz ausmachen«, schreibt Angelika Pillen. »Für diejenigen, die dazu bereit sind, sich auf eine Begegnung und auf eine Beziehung mit ihm einzulassen, lässt der Demenzkranke Aspekte des Menschseins in Erscheinung treten, die uns gleichermaßen positiv bestimmen, auch wenn sie im Lebensvollzug des autonomen Erwachsenenlebens in den Hintergrund treten. Das betrifft vor allem die Sphäre der Emotionalität.«
    Sie hat recht. Die Demenz hält für den, der offen damit umgeht, einige Lehren bereit. Eine heißt ganz sicher Demut.
    Jede Begegnung mit meiner Mutter ist immer mehr wie eine erste und letzte. Ich weiß, dass sie sich inzwischen nicht mehr an das erinnern kann, was vor fünf Minuten geschehen ist oder worüber wir gerade eben noch gesprochen haben. Sie lächelt, wenn ich sie besuche, gibt mir den Namen meines Bruders, meines Vaters oder ihres Bruders. Und manchmal tatsächlich noch meinen eigenen. Aber ich bin mir sicher, dass sie spürt, wer sie ist. Und ich glaube, dass sie auch spürt, wer ich bin.
    Was wichtig ist und immer wichtiger wird, ist der direkte Kontakt. Das Miteinandersein, einfach und erwartungslos. Das ist es, was bleibt: die Momente. Nicht mehr, und auch nicht weniger. Alles ist jetzt.

Erinnerungen XVIII
    »Gibt es etwas in deinem Leben, was du gern grundsätzlich anders gemacht hättest?«
    »Ja, ich hätte mehr Ehrgeiz
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