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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
Autoren: Joern Klare
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unsere Wut über dieses Schicksal nicht lauthals in die Welt hinaus, wir rannten nicht weg, wir stritten nicht. Wir funktionierten.
    Was wir erlebten, war und ist kein exklusives Drama. So was passiert in Deutschland jeden Tag wohl mindestens einige Dutzend Mal. Der Abgrund, den wir spürten, wurde durch diese Erkenntnis allerdings nicht kleiner. Wir wussten nicht, was auf unsere Mutter und auf uns zukommen würde. Wir wussten nur, dass sich das alles nicht wirklich gut anfühlte. Es war einer der traurigsten Tage meines Lebens.
    Als ich mit meiner Mutter und meinem Bruder für einen Moment ruhig zusammenstand, bat ich sie, im Zweifelsfall doch bitte zuerst ihn und erst dann mich zu vergessen. Wir lachten. Auch meine Mutter. Ein gequältes Lachen, aber immerhin ein Lachen.
    Es war schon dunkel, als wir in Warendorf ankamen. Ein modernes Haus in einem neu angelegten Park. Meine Mutter und Egon bekamen jeweils ein eigenes großes Zimmer mit Bad und Blick in den Garten. Wir luden die Möbel aus, richteten schon mal alles grob ein. Ich lernte einennetten Pfleger kennen, dem ich den Arztbrief und die Medikamente für die nächsten Tage übergab. Wir tauschten Informationen aus über Gewohnheiten und Vorlieben meiner Mutter und den Alltag und die Angebote des Heimes. Das klang erst mal gut. Der Mann wirkte kompetent und verständnisvoll. Ich vertraute ihm, auch weil mir kaum etwas anderes übrig blieb und weil ich hoffte, dass es meiner Mutter dort besser gehen würde als zuvor. Außerdem war ich mittlerweile mit den Nerven fertig und konnte meine Fassade nur noch mit großer Mühe aufrechterhalten.
    Bei all dem vernünftigen Funktionieren hatte ich das Gefühl, in einen Film geraten zu sein, der sich fremd und falsch anfühlte. Es gab kein positives Szenario, an dem ich mich orientieren konnte. Allerdings fehlte mir auch die Fantasie für eine Erzählung von zwei Söhnen, die ihre an Demenz leidende Mutter in ein Heim bringen, und alles ist gut.
    Sie selbst war am Ende des Tages vor allem erschöpft, zeigte sich aber gewillt, das Beste aus der Situation und der neuen Perspektive zu machen. In der Essener Klinik hatte sie den Wunsch geäußert, einen Ort zu finden, an dem sie bleiben konnte. Dieses Heim sollte es sein. Ich fuhr wieder nach Berlin, hoffte, dass alles gut werden würde, und ich freute mich darauf, mich wieder um mein eigenes Leben kümmern zu können. Erst ein paar Tage später kam die Melancholie, dann die Trauer. Ich dachte an meine Mutter und spürte die wachsende Kluft. Ein Bild setzte sich fest: Ich stehe am Ufer, meine Mutter treibt in einem kleinen Boot davon. Ich rufe ihr noch etwas zu und weiß nicht, ob sie mich versteht. Sie ist hilflos und allein.
    Die Klarheit, welche die Diagnose mit sich brachte, hatte schon bald nichts Befreiendes mehr. Lange war sie vor allem ein Schock, den ich nicht mit meinem Verständnis vom Leben verknüpfen konnte. Dement bedeutet »ohne Geist«. Das Gehirn meiner Mutter schrumpft unaufhaltsam. Ihre Erinnerungen, ihr Empfinden für Zeit und Raum, ihre reflektierte Selbstwahrnehmung und auch ihre Eigenständigkeit gehen zum Teil langsam, zum Teil erschreckend schnell verloren. Bei der Vorstellung kreisen in meinem Kopf Schlagwörter wie »Sterben bei lebendigem Leib« und »Abschied vom Ich«.
    Stimmt das?
    Kann man Demenz, den Zustand »ohne Geist«, überhaupt verstehen ? Ich meine jenseits von dem, was da im Gehirn schiefläuft? Ist das, was verloren geht, nicht das, was einen Menschen ausmacht? Sind Erlebnisse nicht nur dann etwas wert, wenn wir uns daran erinnern? Wie kann man erfassen, was es bedeutet, wenn sich ein Gedächtnis auflöst, wenn sich nach und nach alle Erinnerungen verabschieden? Und was bleibt übrig? Ist die Person, die jetzt noch meine Mutter ist, irgendwann nicht mehr diese Person? Ist es möglich, »sich selbst zu verlieren«? Und … was ist ein solches Leben wert?
    Ich weiß es nicht. Ich würde es aber gern verstehen, dann könnte ich darin vielleicht einen Sinn erkennen oder zumindest hineininterpretieren. Es geht dabei nicht um Mitgefühl. Es geht um die Hoffnung, die Demenzerfahrung in ein Weltbild integrieren zu können, das mir ein Mindestmaß an Halt und Orientierung gewährt. Im Moment erlebe ich die Demenz vor allem immer wieder als einen Krater in meiner Lebensanschauung, als Angriff auf mein Selbstverständnis. Als Katastrophe.

»Jeder Fall ist anders.«
Der Psychiater Hans-Georg Nehen
    Ich habe einen Termin bei Professor
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