Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
Autoren: Joern Klare
Vom Netzwerk:
Hans-Georg Nehen, dem Leiter der Essener Memory-Clinic, in der meine Mutter zum ersten Mal untersucht wurde. Inzwischen weiß ich, dass es viele Formen von Demenz gibt. Die bekannteste und häufigste wurde nach dem Nervenarzt Alois Alzheimer benannt, der am 25. November 1901 mit der damals einundfünfzigjährigen Auguste Deter einen der mittlerweile berühmtesten Dialoge der Medizingeschichte führte:
    »Wie heißen Sie?
    »Auguste.«
    »Familienname?«
    »Auguste.«
    »Wie heißt Ihr Mann?«
    »Ich glaube Auguste.«
    »Ihr Mann?«
    »Ach so.«
    »Wie alt sind Sie?«
    »Einundfünfzig.«
    »Wo wohnen Sie?«
    »Ach, Sie waren doch schon bei uns.«
    »Sind Sie verheiratet?«
    »Ach, ich bin doch so verwirrt.«
    »Wo sind Sie hier?«
    »Hier und überall, hier und jetzt, Sie dürfen mir nichts übel nehmen.«
    »Wo sind Sie hier?«
    »Da werden wir noch wohnen.«
    »Wo ist Ihr Bett?«
    »Wo soll es sein?«
    Später äußerte Deter nach Alzheimers Aufzeichnungen mehrfach den Satz: »Ich habe mich sozusagen selbst verloren.«
    Deter war unter anderem aufgrund zunehmender Verwirrtheit zu Alzheimer in die Frankfurter »Anstalt für Irre und Epileptiker« gebracht worden. Es war nicht das erste Mal, dass der damals achtunddreißigjährige Alzheimer einem Patienten oder einer Patientin mit solchen Symptomen begegnete. Doch noch niemand war so jung gewesen wie Deter. Alzheimer nannte das Phänomen »Die Krankheit des Vergessens«. Nach dem Tod Deters im Jahr 1906 obduzierte er ihr Gehirn, wo er mit einem im Vergleich zu heutigen Möglichkeiten bescheidenen Mikroskop »hirsegroße Herdchen« aus abgestorbenen Nervenzellen und Eiweißablagerungen – sogenannten Plaques – entdeckte. Seine damaligen Wissenschaftlerkollegen interessierte das allerdings alles nur am Rande.
    Schließlich war die Demenz ja auch keinesfalls eine neue Erscheinung. Schon 2400 vor Christus beschrieb der ägyptische Wesir Ptahhotep das Alter so: »Kindliche Schwäche zeigt sich erneut. Wer ihretwegen tagein, tagaus dahindöst, ist infantil … der Mund ist schweigsam, er kann nicht reden. Das Herz [nach altägyptischer Vorstellung der Sitz des Geistes; J. K.] lässt nach. Es kann sich nicht mehr an das Gestern erinnern.« Auch Shakespeares achtzigjähriger Lear war wohl nachlesbar dement.
    Eine gängige Definition beschreibt das Phänomen heute als »alltagsrelevante Abnahme von Gedächtnis und anderen kognitiven Funktionen im Vergleich mit dem ursprünglichen Funktionsniveau des Patienten, die länger als sechs Monate besteht«. Nur in seltenen Fällen kommt es dabei über die verstandesmäßigen Einschränkungen hinaus auch zu Veränderungen der Persönlichkeit.
    Seit Mitte der siebziger Jahre ist »Alzheimer« die am häufigsten diagnostizierte Form von Demenz. Zeitweisegalt sie gar als »Modekrankheit«. Umstritten ist allerdings, ob es sich dabei tatsächlich um eine spezifische »Krankheit« oder nicht doch eher um eine Art forciertes, im Grunde aber normales Altern handelt, wie es die Experten Peter J. Whitehouse und Daniel George in ihrem 2009 in Deutschland erschienenen Buch Mythos Alzheimer ausführlich darlegen. Fakt ist, dass die Alzheimer-Demenz als Krankheit weder klar definiert noch hundertprozentig sicher zu diagnostizieren ist. Und unbestritten ist außerdem, dass in den Gehirnen Verstorbener immer wieder auch Veränderungen gefunden wurden, die eindeutig auf eine Alzheimer-Demenz hinwiesen, ohne dass die Betroffenen zu Lebzeiten entsprechende Symptome zeigten.
    2011 machte die Wissenschaftsautorin Cornelia Stolze in ihrem Buch Vergiss Alzheimer! darauf aufmerksam, dass viele Ursachen für Gedächtnisstörungen wie Medikamentennebenwirkungen, Infarkte im Gehirn, Depressionen, Alkoholismus oder Austrocknung zu wenig beachtet würden. Hinter diesen »Nachlässigkeiten« vermutet Stolze unter anderem auch wirtschaftliche Interessen der an der Forschung beteiligten Pharmakonzerne und Mediziner. Das sind interessante Berichte, und es erscheint mir tatsächlich sinnvoll, vorsichtig mit dem Begriff »Alzheimer« umzugehen. Leider ändert das jedoch nichts am tatsächlichen Zustand meiner Mutter.
    Insgesamt kennt die Medizin zwanzig bis dreißig weitere Formen von Demenz, etwa die Demenz mit Lewy-Körperchen, die frontotemporale Demenz oder die Pickkrankheit. Neben »Alzheimer« tritt die auf Gefäßveränderungen basierende vaskuläre Demenz, eine Art Arteriosklerose im Gehirn, umgangssprachlich »Verkalkung« genannt, am häufigsten auf. Oft
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher