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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
Autoren: Joern Klare
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zerstört.
    Nehen ist ein eher zarter Mann, Anfang sechzig, mit einem feinen, freundlichen Lächeln. Vor gut zwanzig Jahren gründete der Arzt für Innere Medizin, Rheumatologie und Klinische Geriatrie die damals einzigartige Spezialeinrichtung. Sie ist mit zahlreichen Fachärzten und jährlich 800 bis 1000 Patienten eines der führenden Kompetenzzentren Deutschlands.
    – Die Synapsen, das sind die Kontaktstellen zwischen den Nervenzellen, können nicht mehr miteinander agieren. Und mit den Verknüpfungen lösen sich die erinnerten Informationen auf.
    Die ersten Anzeichen einer Demenz, die meist das Kurzeitgedächtnis betreffen, werden in der Regel erst bemerkt, wenn bereits etwa sechzig Prozent der Nervenzellen nicht mehr funktionieren. Die Veränderungen im Gehirn beginnen aber schon Jahrzehnte, bevor die Symptome auftreten, was nichts anderes bedeutet, als dass in meinem siebenundvierzig Jahre alten Kopf der Prozess, der mir später eine Demenz beschert, schon längst begonnen haben könnte. Ganz abgesehen davon, dass im menschlichen Gehirn schon bei Fünfundzwanzigjährigen ein vollkommen normaler Schrumpfungsprozess beginnt, der sich in der zweiten Lebenshälfte beschleunigt, wenn sich pro Jahrzehnt etwa fünf Prozent unserer Nervenzellen verabschieden.
    – Und wie stellt man fest, ob jemand eine Demenz hat?
    – Die Diagnose einer Demenz ist ein Mosaikbild aus vielen kleinen Steinen. Je mehr Steine, desto sicherer wird das Bild.
    Den allein entscheidenden eindeutigen Eiweißwert im Hirnwasser, die allein entscheidende eindeutige Entdeckung auf den Bildern der Computertomografie oder das allein entscheidende eindeutige Ergebnis eines psychiatrischen oder psychologischen Tests zur definitiven Diagnose der Demenz gibt es nicht.
    – Wir steuern das Problem aus verschiedenen Richtungen an. Wir untersuchen das Hirnwasser, wir nutzen die bildgebenden Verfahren der Computertomografie, schon um einen Tumor ausschließen zu können. Wir untersuchen aus der psychiatrischen Perspektive. Wir machen internistische Untersuchungen, weil auch ein schlecht eingestellter Blutdruck oder Diabetes zu Hirnveränderungen führen können. Dann gibt es halb strukturierte Gespräche mit einem Psychologen, die etwa die Lebensgeschichte, mögliche Traumatisierungen in der Vergangenheit oder auch den normalen Tagesablauf betreffen. Am Ende tragen wir die Ergebnisse zusammen und machen uns ein Bild.
    Ergänzt wird das alles in der Memory-Clinic durch die Beobachtung der Patienten während ihres in der Regel einwöchigen Aufenthalts. So beeindruckend der Aufwand zur Umzingelung einer Demenz ist, so sehr offenbart sich auf der anderen Seite aber auch die Hilflosigkeit und Unsicherheit der Mediziner. Nehen macht kein Geheimnis daraus, dass die strikt naturwissenschaftliche Ausrichtung der Medizin beim Umgang mit Menschen mit Demenz nur sehr bedingt weiterhilft.
    – Gibt es so was wie einen klassischen Verlauf bei der Demenz? Dass man etwa erst die Handtasche vergisst und dann die Orientierung verliert?
    Nehen antwortet mit einem Lächeln und einem Lehrsatz.
    – Wenn man einen Alzheimer-Patienten kennt, kennt man genau einen Alzheimer-Patienten!
    Jeder Fall ist anders. Ganz allgemein lässt sich allerdings sagen, dass die vaskuläre, also gefäßbedingte Demenz, eher in Schüben voranschreitet, wohingegen die Alzheimer-Form etwas kontinuierlicher verläuft. Der Prozess kann sich über drei oder auch zwanzig Jahre hinziehen, wobei Nehen davon ausgeht, dass es bei einem durchschnittlichen Verlauf etwa neun Jahre dauert, bis der Patient stirbt.
    – Es gibt da große Unterschiede. Einer kann noch gut rechnen, eine noch gut lesen, und der andere kann sich noch gut orientieren. Für die Angehörigen ist es manchmal sehr schwierig, das zu verstehen.
    – Wovon hängt das ab?
    – Davon, welche Bereiche im Gehirn betroffen sind. Aber auch davon, was die Person oft und vor allem gern gemacht hat. Wie stark ebendiese Erinnerungen verankert sind.
    Nehen erzählt die Geschichte eines Rechtspflegers mit mittelschwerer Demenz, der seine beruflichen Aufgaben ausgesprochen ernst genommen hatte. Nachdem er schon lange außer Dienst war, wurde an seiner früheren Arbeitsstätte eine entscheidende Akte für einen besonders wichtigen Prozess vermisst. Man überlegte, den Rechtspfleger zu fragen, verwarf die Idee aber wieder. Der Mann konnte in der eigenen Wohnung, in der er betreut wurde, die Küche schon nicht mehr vom Bad unterscheiden.
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