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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
Autoren: Joern Klare
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wird sie zusammen mit »Alzheimer« als eine Art Mischtyp diagnostiziert. So wie bei meiner Mutter.
    Betroffen ist das wohl komplexeste Organ, das die Natur hervorgebracht hat: das menschliche Gehirn. Bei einemNeugeborenen wiegt es ungefähr ein Pfund, im erwachsenen Zustand etwa dreimal so viel. Bereits ein Fötus im Mutterleib bildet in jeder Minute bis zu 250000 Nervenzellen. Während nach der Geburt wohl kaum noch weitere dieser Neuronen entstehen, beginnt nun die große Zeit der Verknüpfungen. Wissenschaftler schätzen, dass in den ersten Lebensjahren pro Sekunde und Quadratzentimeter der Gehirnoberfläche an die 30000 solcher Verbindungen hergestellt werden. So verfügt ein Hirn schließlich über bis zu hundert Milliarden Nervenzellen mit jeweils Tausenden Verknüpfungen untereinander. Die versorgenden Blutgefäße kommen dabei auf eine Gesamtlänge von achtzig bis hundert Kilometern. Ein unvorstellbares Netz, in dem all unsere Erinnerungen stecken.
    Grundsätzlich unterscheidet man dabei zwischen dem Kurz- und dem Langzeitgedächtnis. Unablässig erreichen unser Gehirn im Wachzustand neu gesehene, gehörte, geschmeckte, gerochene oder gefühlte Eindrücke, die je nach Art der Information entweder gleich im Langzeitgedächtnis landen oder aber im Kurzeitgedächtnis für ein paar Sekunden oder auch Minuten zwischengelagert werden, bis entschieden ist, ob sie längerfristig abgespeichert werden sollen. Man kann sich dieses Kurzzeitgedächtnis als einen Arbeitsspeicher mit begrenzter Kapazität vorstellen, der im angeregten Wachzustand ständig überzulaufen droht. Während permanent neue Informationen eintreffen, muss unablässig die gleiche Menge an »alten«, vermeintlich unwichtigen Informationen abfließen. Das heißt, sie werden sofort wieder vergessen.
    Werden Informationen längerfristig abgespeichert, verändert sich das Gehirn physisch – weshalb man gleich versuchen sollte, den gern genutzten Vergleich mit der Festplatte eines Computers zu vergessen. Im Gegensatz zu einer Festplatte, die durch einen Speichervorgang physikalisch nicht verändert wird, kommt es im Gehirn bei der Abspeicherung einer bestimmten Information über eine chemoelektrische Reizweiterleitung zu einer jeweils speziellen Verknüpfung einzelner Nervenzellen. Dabei gilt: Je komplexer die Information, desto größer der beteiligte Zellverband.
    Auf diese Weise verändert sich die Struktur unseres Gehirns mit jeder neu aufgenommenen Erfahrung. Informationen, die schon irgendwie bekannt sind, werden mit den vorliegenden Erinnerungen in Beziehung gesetzt. Das heißt, bereits bestehende Verbindungsmuster von Nervenzellen werden verstärkt und gegebenenfalls leicht verändert. Während sich Informationen, die immer wieder bestätigt und abgespeichert werden, in einem immer stabiler werdenden und somit beständigeren Netz von Verknüpfungen ausdrücken, verblassen die Verbindungsspuren jener Informationen, die nicht bestätigt werden. Das ist nebenbei auch der Grund, weshalb uns die Werbeindustrie so gern denselben Werbespot im Fernsehen innerhalb kurzer Zeit immer und immer wieder vorsetzt.
    Dazu kommt, dass auch Gefühle, die mit der Information verbunden sind, für eine grundsätzlich stabilere Abspeicherung sorgen. Wer also eine bestimmte Vokabel lernen möchte, sollte sie sich öfters anschauen oder vorsagen. Wem es gelingt, dabei Freude zu empfinden, hat dann gleich noch größere Chancen, seinen Kaffee im nächsten Urlaub mal ohne Wörterbuch bestellen zu können.
    Ausgelöst, also wieder hervorgerufen werden Erinnerungen, wenn ein entsprechender Reiz das Gehirn erreicht, zum Beispiel: ein Foto mit dem Gesicht der eigenen Mutter. Zu diesem Bild entsteht ein spezielles, überaus komplexes Verbindungsmuster von Nervenzellen, genau so, als ob ich es zum ersten Mal sehen würde. Dieses Muster wird dann mit ähnlichen, bereits vorhandenen Mustern verglichen. Und weil zum Bild meiner Mutter ja schon viele entsprechende Muster vorliegen, entsteht eine Verbindung zuden gespeicherten Gedächtnisinhalten. Mein Bewusstsein erkennt: »Ah! Meine Mutter!« Erinnerungen werden wach, das heißt gespeicherte Erlebnisse, Gefühle und Abstraktionen werden aktiviert. Einem Menschen mit Demenz gelingt das in vielen Fällen nicht mehr.
    – Bei der Alzheimer-Demenz sterben die Gehirnzellen zunehmend ab.
    Sagt Hans-Georg Nehen. Wir sitzen in seinem hellen Büro in der modernen Memory-Clinic.
    – Auch die Verbindungen der Zellen untereinander werden
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