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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
Autoren: Joern Klare
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fassungslos. Eine gefühlte Ewigkeit. Dann ging ich zu ihr, nahm ihr das Geschirr aus der Hand und zeigte ihr den Weg. Schweigend räumten wir die Küche gemeinsam auf.
    In der Nacht schreckte meine Mutter mehrmals auf, irrte orientierungslos und um Hilfe rufend durch das Haus. Immer wieder brachte ich sie zurück ins Bett, setzte mich neben sie, sprach auf sie ein, versuchte, sie zu beruhigen. Egon kam dazu, auch Mascha. Es war für uns alle wie einbedrückender Albtraum. In seinem Zentrum meine Mutter.
    Ein Gutes hatte diese Nacht dann doch. Es war nun für alle offensichtlich, dass meine Mutter Hilfe brauchte. Dringend. Der Bann aus Schweigen, Stolz und Bequemlichkeit war gebrochen. Später wurde mir im Gespräch mit Egon klar, dass sich meine Mutter bislang wohl noch irgendwie mühsam zusammengerissen hatte, bis jemand kam, bei dem sie sich fallen lassen konnte. Es schien, als hätte sie auf mich gewartet, um diese Hilfe von mir einzufordern.
    Spätestens nach der zweiten Nacht war ich damit überfordert. Ich sprach mit Egon, telefonierte mit meinem Bruder, meiner Schwiegermutter, einer pensionierten Ärztin, und auch mit meinem Vater, von dem sich meine Mutter zehn Jahre zuvor getrennt hatte. Ich brachte meine Mutter in die Memory-Clinic des Essener Elisabeth-Krankenhauses, erklärte das Problem einem jungen Arzt und offenbarte meine Hilflosigkeit. Er verstand die Situation, weil sie ihm vertraut war. Er schlug vor, meine Mutter für eine umfassende Diagnose eine Woche lang aufzunehmen.
    Nachdem ich mich mit meinem Bruder besprochen und zugestimmt hatte, musste der Arzt mich gleich auch noch trösten. Meiner Mutter gegenüber hatte ich das Gefühl, sie ab- und auszuliefern. Sie sollte in einem Mehrbettzimmer schlafen, wirkte verstört und flehte mich an, sie nicht allein zurückzulassen. Der Abschied war schrecklich. Und doch war ich auch erleichtert.
    Die nächste Nacht konnte ich wieder nicht schlafen. Dabei ging es nicht nur um meine Mutter, sondern auch um mich, mein Leben, meine Frau und meine Töchter. Wir hatten langfristig eine Reise auf die Kanaren geplant. Einen Tag nachdem ich meine Mutter in die Klinik gebracht hatte, wollten wir losfliegen. Ich sagte meiner Frau, dass ich nicht mitreisen könne. Sie verstand das, und doch spürte ich, dass sie darüber traurig war. Mein Bruder riet mir zufliegen, er sei vor Ort und könne sich um alles kümmern. Ich spürte, dass es eine Art Grundsatzfrage war zwischen den Gefühlen für und der Loyalität gegenüber meiner Mutter auf der einen Seite und meiner eigenen Familie, meinem eigenen Leben auf der anderen. Ich war hin- und hergerissen. Am frühen Morgen entschied ich mich zu reisen und schaffte es gerade noch zum Flughafen.

Erinnerungen II
    »Was hast du von der Politik in der Zeit mitgekriegt?«
    »Ich weiß, dass da immer … Das ist mir erst vor einiger Zeit eingefallen, dass ich immer im Ohr hatte ›Germany Calling. Germany Calling‹. Das war der Rundfunksender, den man nicht hören durfte. ›Radio London‹ oder so. Wir konnten doch kein Englisch. Ich war ja im Krieg noch ein Kind. Das durfte man aber nicht hören. Meine Mutter war mutig und hat das immer angemacht. Das dauerte immer, bis der Sender eingestellt war, und dann lauschten wir. Die sprachen natürlich Deutsch: ›Ihr werdet den Krieg verlieren! Ihr müsst aufgeben!‹ Und so weiter.«
    Mascha brabbelt ein bisschen verärgert. Meine Mutter wiegt sie.
    »Och, och, Mäuschen.«
    Nach einer kleinen Pause.
    »Ich war da ja erst acht oder neun Jahre, aber eigentlich habe ich viel mehr mitgekriegt, als die glaubten. Auch dass meine Mutter immer sagte: ›Den Krieg, den werden wir verlieren.‹ Dann sagten die immer alle: ›Sei still, sei still! Das darfst du doch nicht laut sagen!‹ Einmal gab es da bei uns auch einen großer Tumult. Papa hatte im besoffenen Kopf was über Hitler gesagt, und da hat ihm einer gedroht. Und da hatten die alle ganz große Angst. Ich weiß auch jetzt noch, wie der hieß, der ihm gedroht hat.«
    »Wie hat der gedroht?«
    »Ja, so: ›Besoffener Mund spricht Herzensgrund. Du bist gegen den Führer!‹ Das ist dann aber noch mal gut gegangen. Entweder haben die den be… das weiß ich nicht. Oder die haben den überredet, das nicht anzuzeigen. Oder er hat von sich aus gedacht, das ist eine Lappalie.«
    »Was hätte da passieren können?«
    »Ja, da wurde gesagt: ›Da kommst du ins KZ!‹ Ich weiß nicht, ob du dafür schon ins KZ kamst, wenn du so zersetzende
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