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Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand

Titel: Als meine Mutter ihre Kueche nicht mehr fand
Autoren: Joern Klare
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Sachen sagtest. Vielleicht.«
    »Wann war das?«
    »Das war vielleicht 43 oder 44. Ich war ja, 45, als der Krieg ausging, neun Jahre alt.«

Das Urteil
    In den Aufzeichnungen der Memory-Clinic, in der meine Mutter untersucht wurde, ist von einer »ängstlichen Patientin« die Rede, die »orientierungslos« sei, die »Pflegekraft für ihre Schwiegertochter hält«, sich »bevormundet« fühle, mit »dem Feuermelder redet«, »viel Chaos« anrichte und die Behandlung einer Mitpatientin untersage, weil »dies ihr Mann sei«. Das Protokoll eines weiteren Albtraums.
    Weiterhin finde ich in den Unterlagen eine schlecht gezeichnete Uhr. Der »Uhrentest«, bei dem eine Uhr mit allen nötigen Zahlen und Zeigern gezeichnet werden soll, ist ein klassisches Instrument bei der Demenzdiagnose.
    Genau wie der Mini-Mental-Status-Test. Dabei werden zuerst die aktuelle Zeit und der aktuelle Ort abgefragt. Der Patient lernt drei Begriffe wie zum Beispiel »Auto«, »Blume« und »Kerze« auswendig, bevor er ein paar Rechenaufgaben löst oder ein Wort wie »Radio« rückwärts buchstabiert, um anschließend wieder die drei gelernten Begriffe zu erinnern. Schließlich sind noch ein paar relativ leichte sprachliche Aufgaben zu lösen, bevor am Ende eine einfache geometrische Zeichnung kopiert werden muss. Für jede gelöste Einzelaufgabe gibt es Punkte, die anschließend addiert werden. Meine Mutter wurde außerdem gebeten, einen vollständigen Satz zu schreiben. »Heute vor fünfzig Jahren habe ich zum ersten Mal geheiratet«, steht auf dem Zettel. Ich schaue auf das Datum. Es stimmt auf den Tag genau.
    Dann befinden sich in der Akte noch eine Menge Seiten mit vielen Zahlen zu Blutwerten und Hirnwasser sowie der Befund einer Computertomografie des Schädels mit zahlreichen, mir völlig fremden Fachbegriffen, aber auch verständlichen Aussagen wie »Hirnvolumenminderung« und »degenerative Veränderungen«.
    Die Diagnose liest sich wie ein Urteil. Von »Defiziten im Kurzzeitgedächtnis« ist die Rede, von »einer schwergradig gestörten, räumlichen konstruktiven Kompetenz« sowie »depressiven Episoden« und »Angststörungen«. Schließlich heißt es: »Im Rahmen der Demenzdiagnostik konnten wir eine Demenz vom Mischtyp diagnostizieren. […] In der Pflege braucht die Patientin Strukturgabe, viel Anleitung und Beaufsichtigung.« Die Ärzte empfehlen eine ganze Reihe von Medikamenten gegen Depression, Angst, Unruhe und Demenz.
    Als ich aus dem Urlaub zurückkam, hatten mein Bruder und ich die wesentlichen Entscheidungen in zahlreichen Telefongesprächen bereits getroffen. Meine Mutter und ihr Lebensgefährte Egon würden in ein Heim ziehen. Ob das auch wirklich ihrem Wunsch entsprach, war eine Frage, der niemand wirklich auf den Grund gehen wollte. Es war offensichtlich, dass sie ihren Alltag nicht mehr allein bewältigen konnten, zumal keiner ihrer Angehörigen in Essen lebte. Deswegen kam auch das Heim in ihrer Nachbarschaft, das sich die beiden schon mal angeschaut hatten, nicht infrage. Ganz abgesehen davon, dass es zu diesem Zeitpunkt dort keine freien Plätze gab. Egons Tochter hatte aber in ihrem Wohnort Warendorf eine Einrichtung mit zwei freien Zimmern gefunden. Da mein Bruder Jan im nahe gelegenen Münster wohnt, waren wir einverstanden. Zudem gab das Heim an, auf die Behandlung von Menschen mit Demenz spezialisiert zu sein. Das war uns wichtig. Wir waren froh, dass es einen »sicheren« Ort für unsere Mutter gab.
    Jan und ich sortierten die Möbel, die Kleidung und persönlichen Dinge vor, die meine Mutter mitnehmen sollte. Die endgültigen Entscheidungen wollten wir ihr überlassen. Doch sie war, wohl auch wegen der »beruhigenden«Medikamente, mit solchen Fragen weitgehend überfordert. Sie schien nicht ganz fassen zu können, was gerade passierte. Vielleicht war es besser so, redete ich, der selbst weit davon entfernt war, wirklich alles fassen zu können, was gerade passierte, mir ein. So mussten wir, die Söhne – von wenigen Rückfragen abgesehen –, festlegen, was sie nicht mehr brauchte, was verschenkt oder weggeworfen werden sollte. Innerhalb eines halben Tages lösten wir so ein Zuhause auf, in dem sie zehn Jahre gelebt hatte. Das ging erschreckend schnell, vielleicht zu schnell. Aber was ist in solchen Fällen der Maßstab? Ich wusste es nicht und weiß es auch heute nicht.
    Mein Bruder und ich nahmen die Verantwortung an. Wir beklagten nicht das vermeintlich ungerechte Schicksal unserer Mutter, wir schrien
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