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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war
Autoren: Pistorius Martin
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lachte, und dass sie nervös die Position wechselte, wenn sie mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem Stuhl saß. Sie hatte in meinem Pflegeheim als Aushilfsschwester angefangen, und mir fielen diese Details auf, weil man derartige Dinge bemerkt, wenn die Menschen nicht mit einem reden. Doch dann begann Virna zu mir zu sprechen, und mir wurde klar, dass ich sie nie vergessen würde. Die meisten Menschen sprechen über mich oder an mir vorbei, wenn sie sich an mich wenden. Daher wird jeder, der mich einfühlsamer als ein Stück Holz behandelt, unvergesslich.
    Eines Tages erzählte mir Virna, sie habe Magenbeschwerden. Diese Gattung Allerweltsbekenntnisse hatte ich schon seit Jahren von den Leuten um mich herum gehört, wenn sie unbedacht vor sich hin schwatzten und meinten, ich sei ja doch nicht anwesend. So erfuhr ich ziemlich alles Wichtige über die gesundheitlichen Probleme einiger Pfleger und Pflegerinnen: Einer hat eine Frau mit Alzheimer, eine Pflegerin hat Probleme mit ihren Nieren, und bei einer anderen sorgt ein Unterleibskrebs vermutlich dafür, dass sie kinderlos bleibt.
    Doch als Virna zu mir sprach, war das anders. Sie redete nicht mit sich selbst, jemand anderem oder in den leeren Raum hinein. Sie sprach zu mir und plapperte, wie sie es gegenüber jedem anderen ihrer Altersgruppe auch getan hätte. Sie teilte mir ihre Gedanken mit, die ihr wie Staubkörner im Sonnenlicht durch den Kopf schwirrten. Es war ein Gespräch, wie es vermutlich viele Freunde von etwas über zwanzig untereinander führen, doch ich hatte diese Erfahrung noch nie gemacht. Es dauerte nicht lange, da begann Virna mir alles zu erzählen, über die traurige Krankheit ihrer Großmutter, ihren neuen Hundewelpen, den jungen Mann, mit dem sie eine Verabredung hatte, worauf sie sich freute. Ich hatte fast das Gefühl, eine erste Freundschaft zu schließen.
    Dies war der Grund, weshalb ich anfing, Virna anzuschauen, was ich sonst nicht häufig tue. Normalerweise fühlt sich mein Kopf wie aus Beton an, wenn ich ihn zu heben versuche, und ich schaffe es selten bis auf Augenhöhe mit anderen Menschen, da ich immer in einem Rollstuhl sitze oder liege. Es kostet mich so viel Kraft, dass ich es schon vor langem aufgab, Augenkontakt mit anderen Leuten zu suchen, die mich zwar anschauen, aber nicht wirklich sehen. Stundenlang sitze ich jeden Tag da und starre blicklos in die Gegend. Doch das änderte sich, als Virna damit begann, bei mir und einigen meiner Gefängnisgenossen Aromatherapie-Massagen anzuwenden, um unsere verbogenen Gliedmaßen zu lockern. Während sie meine schmerzenden Muskeln durchknetete, gelang es mir, ihr zuzuschauen, wie sie mit mir sprach, und Schritt für Schritt begann ich aus dem Schneckenhaus herauszulinsen, in das ich mich verkrochen hatte.
    Virna schaute mich direkt an. So, wie es seit langem keiner mehr bei mir getan hatte. Sie erkannte, dass meine Augen wahrhaftig die Fenster zu meiner Seele waren, und sie kam mehr und mehr zu der Überzeugung, dass ich verstand, was sie sagte. Doch wie sollte sie anderen erklären, dass der nicht reagierende Geisterjunge zu mehr imstande war, als alle dachten?
    Monate wurden zu einem Jahr und bald zu einem zweiten. Virna hatte vor ungefähr sechs Monaten im Fernsehen den Bericht über eine Frau gesehen, der man das Kommunizieren ermöglicht hatte, nachdem sie infolge eines Schlaganfalls ihre Sprache verloren hatte. Kurz darauf ging Virna an einem Tag der offenen Tür in ein nahe gelegenes Institut, in dem Fachleute darüber berichteten, welche Möglichkeiten es gab, Menschen zu helfen, die ihr Sprachvermögen verloren hatten. Als sie zurückkam, erzählte sie mir total begeistert, was sie dort erfahren hatte.
    »Die setzen Tastaturen und elektronische Geräte ein, mit deren Hilfe die Menschen kommunizieren können«, sagte sie. »Glaubst du, du könntest so etwas auch, Martin? Ich bin sicher, dass du es kannst.«
    Andere Pfleger unseres Heims waren ebenfalls zu diesem Tag der offenen Tür gegangen, doch sie waren weniger überzeugt als Virna, dass ich ein geeigneter Kandidat für diese Technik sein könnte.
    »Glaubst du wirklich, er hätte das Zeug dazu?«, fragte eine Pflegerin, nachdem Virna ihre Hoffnung für mich geäußert hatte.
    Die Frau beugte sich mit dem Anflug eines Grinsens über mich, und ich versuchte zu lächeln und ihr zu zeigen, dass ich verstanden hatte, was sie sagte. Doch meine beiden einzigen Gesten – den Kopf nach rechts schleudern und lachen – wurden
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