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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war
Autoren: Pistorius Martin
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als reflexhafte Reaktionen eines unentwickelten Verstandes interpretiert, als eine Form von Antwort, wie sie auch ein sechs Monate altes Baby geben könnte. Die Frau ging nicht darauf ein. Stattdessen schaute sie mich an und seufzte, während ihr Grinsen verschwand. Ich überlegte, ob sie wohl wusste, dass ihr Atem nach dem Kaffee, den sie vor kurzem getrunken hatte, bitter roch.
    »Kannst du dir etwas derart Blödsinniges vorstellen?«, fragte sie später ihre Freundin, nachdem Virna gegangen war. »Da besteht doch nicht die geringste Chance, dass irgendjemand von denen kommunizieren könnte.«
    Die beiden Frauen blickten sich im Raum um.
    »Gertje vielleicht?«
    Sie schauten auf einen kleinen Jungen, der in der Nähe mit einem Spielzeugauto hantierte.
    »Der ist ein bisschen besser dran als die anderen, meinst du nicht?«
    Die Frauen schwiegen einen Moment, bevor sie ihren Blick wieder auf mir ruhen ließen. Sie sagten kein Wort und betrachteten mich, wie ich da in meinem Rollstuhl saß. Sie brauchten auch nichts zu sagen. Ich wusste, dass man mich an einem Ort, bei dem man als einzige Aufnahmebedingung einen IQ von 30 oder weniger vorweisen musste, für eines der am wenigsten funktionierenden Wesen hielt.
    Allen Zweifeln zum Trotz ließ sich Virna nicht beirren. Nachdem sie den Leuten ein ums andere Mal erzählt hatte, sie glaube fest daran, dass ich verstünde, was man zu mir sagte, redete sie mit meinen Eltern, und diese gaben ihre Zustimmung zu einem Test.
    Morgen bringen sie mich an einen Ort, wo man mir möglicherweise endlich einen Schlüssel zu meiner Gefängnistür liefert.
    »Du wirst dein Bestes geben, nicht wahr?«, sagt Virna jetzt, während sie mich anschaut.
    Ich sehe, dass sie sich Sorgen macht. Zweifel huschen über ihr Gesicht wie die Schatten von Wolken, die an einem sonnigen Tag über das Land rasen. Ich erwidere ihren Blick und würde ihr so gerne sagen, dass ich jede Faser meiner Existenz einsetzen werde, um das Beste aus einer Chance zu machen, von der ich nicht gedacht hatte, sie jemals zu bekommen. Es ist das erste Mal, dass ich so einer Beurteilung unterzogen werde, und ich werde alles in meiner Macht Stehende unternehmen, um ein kleines Zeichen zu geben, dass es sich lohnt, mir Beachtung zu schenken.
    »Bitte, gib dir jede erdenkliche Mühe, Martin!«, sagt Virna. »Es ist so wichtig, ihnen zu zeigen, was du kannst. Ich weiß nämlich, dass du es kannst!«
    Ich schaue sie an. Tränen schimmern in ihren Augen. Ihr Glaube an mich ist so unendlich stark, dass ich Virna keinesfalls enttäuschen darf.

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    6
Erwachen
    Z ischend gleiten vor mir zwei Scheiben einer Glastür zur Seite. Türen wie diese habe ich nie zuvor gesehen. Wieder einmal hat mich die Welt überrascht. Manchmal sehe ich etwas von ihr, wenn sie am Fenster eines Autos vorbeizieht, in dem ich sitze, doch ansonsten bleibt sie mir verschlossen. Die flüchtigen Eindrücke, die ich von der Welt bekomme, faszinieren mich jedes Mal. So verbrachte ich mal Tage damit, über das Handy eines Arztes zu grübeln, nachdem ich es an seinem Gürtel entdeckt hatte: Es war so viel kleiner als das meines Vaters, dass ich mich die ganze Zeit fragte, durch welche Art Batterie es wohl mit Energie versorgt wurde. Es gibt furchtbar viele Dinge, die ich gerne verstehen würde.
    Mein Vater schiebt den Rollstuhl, als wir das Institut für augmentative und alternative Kommunikation an der Universität von Pretoria betreten. Wir schreiben Juli 2001 – dreizehn und ein halbes Jahr nach Beginn meiner Krankheit. Draußen auf dem Bürgersteig sah ich Studenten im Sonnenschein spazieren gehen und lachen, über ihnen wölbten sich Palisanderbäume, doch hier drinnen im Gebäude herrscht völlige Stille. Wir sind eine kleine Gruppe von Forschern auf Entdeckungsreise, auf der Erkundung einer unbekannten Welt: meine Eltern, mein Bruder David und Virna, außerdem Marietta und Elize, eine Pflegerin und eine Physiotherapeutin, die mich seit Jahren kennen.
    »Mr und Mrs Pistorius?«, fragt eine Stimme, und ich hebe den Blick, um eine Frau zu sehen. »Mein Name ist Shakila, und ich werde Martin heute testen und beurteilen. Wir sind noch dabei, den Raum vorzubereiten, aber es wird nicht lange dauern.«
    Angst überkommt mich. Ich kann nicht in die Gesichter der anderen blicken; ich möchte nicht den Zweifel oder die Hoffnung in ihren Augen sehen, während wir stumm herumstehen. Dann werden wir in einen kleinen Raum geführt, in dem Shakila mit einer anderen Frau
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