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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war
Autoren: Pistorius Martin
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schwarze Kasten mir etwa eine Stimme verleihen? Ich kann kaum glauben, dass irgendjemand auf den Gedanken kommen könnte, ich sei in der Lage, das Ding zu benutzen. Haben sie erkannt, dass ich zu mehr imstande bin, als auf einen Kinderball zu deuten, der mit dicken schwarzen Linien auf eine Karte gepinselt ist?
    »Ich bin sicher, dass du uns verstehst«, sagt Shakila, als sie sich vor mich auf einen Stuhl setzt. »An der Bewegung deiner Augen kann ich ablesen, dass du die Symbole identifizieren kannst, die wir dich suchen lassen, und du versuchst deine Hand einzusetzen, um dasselbe zu tun. Ich bin zuversichtlich, dass wir einen Weg finden werden, dir Kommunikation zu ermöglichen, Martin.«
    Ich starre auf den Boden, unfähig, mich heute noch mehr zu bewegen.
    »Wärst du nicht gerne in der Lage, jemandem mitzuteilen, dass du müde bist oder Durst hast?«, fragt Shakila einfühlsam. »Dass du lieber einen blauen Pullover anziehen möchtest als einen roten oder dass du schlafen gehen willst?«
    Ich bin mir nicht sicher. Bis jetzt habe ich noch niemandem gesagt, was ich will. Wäre ich überhaupt fähig, eine Wahl zu treffen, wenn mir denn eine geboten wird? Könnte ich jemandem sagen, er solle meinen Tee stehen und abkühlen lassen, statt ihn mit hastigen Schlucken zu trinken, wenn man mir einen Strohhalm in den Mund schiebt und ich weiß, dass dies für etliche Stunden die einzige Gelegenheit ist, überhaupt etwas zu trinken? Ich weiß, die meisten Menschen treffen jeden Tag Tausende Entscheidungen darüber, was sie essen oder anziehen sollen, wohin sie gehen wollen und wen sie treffen möchten, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich mir auch nur eine einzige zutrauen kann. Es ist so, als würde man einem Kind, das in der Wüste aufgewachsen ist, sagen, es solle sich ins Meer stürzen.

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    7
Meine Eltern
    A uch wenn der Glaube meines Vaters an mich fast bis zur Grenze der Belastbarkeit strapaziert wurde, kann ich mir nicht vorstellen, dass er ihn irgendwann völlig aufgegeben hat. Das Fundament dieser Standfestigkeit wurde vor vielen Jahren gelegt, als Dad einem Mann begegnete, der seine Kinderlähmung überwunden hatte. Dieser hatte ein ganzes Jahrzehnt gebraucht, um damit fertig zu werden, doch die Erfahrung des Mannes überzeugte meinen Vater, dass alles möglich war. Jeden Tag legte Dad ein Zeugnis seines Glaubens an mich in Form vieler kleiner Taten ab: Indem er mich wusch und fütterte, mich ankleidete und trug, nachts alle zwei Stunden aufstand, um meinen gelähmten Körper umzudrehen. Ein Bär von einem Mann mit einem großen Rauschebart wie der Weihnachtsmann, sind seine Hände stets sanft und zärtlich.
    Es dauerte eine ganze Weile, bis ich begriff, dass meine Mutter kaum einmal in meine Nähe kam, während sich mein Vater praktisch um meine sämtlichen physischen Bedürfnisse kümmerte. Groll und Verbitterung über das, was geschehen war, brachen aus meiner Mutter hervor, sobald sie sich mir näherte. Im Laufe der Zeit musste ich feststellen, dass meine Familie in zwei Teile zerfallen war: mein Vater und ich auf der einen, meine Mutter, David und Kim auf der anderen Seite. Und mir wurde klar, dass meine Krankheit einen großen Keil in das Herz einer Familie getrieben hatte, die früher einmal sehr glücklich gewesen war, wie ich instinktiv ganz sicher wusste.
    Schuldgefühle überkamen mich, wenn ich mitbekam, wie sich meine Eltern stritten, denn ich wusste, dass alle meinetwegen litten. Ich war der Grund für den ganzen Ärger, wobei sich die Auseinandersetzung zwischen meinen Eltern immer und immer wieder um einen Streitpunkt drehte: Meine Mutter wollte mich in ein Ganztagsheim mit Rundum-Pflege geben, wie es die Ärzte empfohlen hatten; mein Vater war dagegen. Sie war überzeugt, mein Zustand sei dauerhaft und ich erfordere derart viel spezielle Aufmerksamkeit und Pflege, dass David und Kim dabei zu kurz kämen, wenn ich zu Hause bliebe. Mein Vater hingegen hoffte immer noch, bei mir könne eine Besserung eintreten, und er glaubte, zu der würde es nie kommen, wenn ich in ein Heim käme. Dies war die fundamentale Meinungsverschiedenheit, die sich über Jahre hinweg zwischen meinen Eltern entlud, manchmal in Form von Brüllen und Tränen, manchmal in Form eisigen Schweigens.
    Lange verstand ich nicht, weshalb meine Mutter so anders dachte als mein Vater, doch nach und nach fügte ich genügend Fakten zusammen, um zu begreifen, dass sie durch meine Krankheit fast am Ende ihrer Kräfte war und dass sie
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