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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war
Autoren: Pistorius Martin
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eine Tage verbringe ich in einem Pflegeheim, das im Vorort einer großen südafrikanischen Stadt gelegen ist. Nur ein paar Stunden entfernt erheben sich mit gelbem Buschwerk bedeckte Berge, in denen Löwen auf der Suche nach Beute umherstreifen. Diesen folgen Hyänen, die sich über die Überreste hermachen, und zum Schluss kommen Geier in der Hoffnung, letzte Fleischfetzen von den Knochen reißen zu können. Nichts wird verschwendet. Das Königreich der Tiere ist ein perfekter Kreislauf von Leben und Tod, endlos wie die Zeit selbst.
    Mir ist die Unendlichkeit von Zeit derart bewusst geworden, dass ich gelernt habe, mich darin zu verlieren. Tage, wenn nicht Wochen, können vorüberziehen, in denen ich mich in mich selbst zurückziehe und nur noch ein schwarzes Loch bin – ein Nichts, das gewaschen und gefüttert wird, vom Rollstuhl ins Bett gehoben – oder in denen ich mich in die winzigen Fleckchen Leben vertiefe, die ich um mich herum wahrnehme. Auf dem Boden krabbelnde Ameisen existieren in einer Welt von Kriegen und Gefechten, Schlachten werden geschlagen und verloren, und ich bin einziger Zeuge eines Dramas, das so blutig und furchtbar ist wie das irgendeines Menschen.
    Ich habe gelernt, Zeit zu beherrschen, statt sie passiv über mich ergehen zu lassen. Ich bekomme selten eine Uhr zu Gesicht, doch ich habe mir selbst beigebracht, die Uhrzeit vom Sonnenverlauf und den Schatten, die in meiner Nähe herabfallen, abzulesen. Ich kam dahinter, als mir auffiel, dass ich mir merken konnte, wohin die Sonnenstrahlen fielen, wenn ich jemanden nach der Uhrzeit fragen hörte. Danach benutzte ich die festen Zeiten, die mir das Leben hier so unerbittlich beschert – Morgengetränk um 10.00 Uhr, Mittagessen um 11.30 Uhr, Nachmittagsgetränk um 15.00 Uhr –, um meine Technik zu perfektionieren. Schließlich boten sich mir Gelegenheiten genug, das Ganze zu lernen.
    Das führte dazu, dass ich die Tage jetzt gelassen auf mich zukommen lassen kann, dass ich sie Minute für Minute, Stunde für Stunde herunterzählen kann, während mich die stummen Geräusche der Zahlen erfüllen – die weichen Windungen der Sechsen und Siebenen, das befriedigende Stakkato von Achten und Einsen. Wenn ich auf diese Weise eine ganze Woche hinter mich gebracht habe, kann ich nur dankbar dafür sein, in einer sonnenreichen Gegend zu leben. Vermutlich wäre ich nie mit den Uhrzeiten zurechtgekommen, wenn ich in Island geboren worden wäre. Dann hätte ich die Zeit endlos über mich hinwegstreichen lassen müssen, und sie hätte mich Stück für Stück abgeschliffen wie einen Kieselstein in der Brandung.
    Woher ich gewisse Dinge weiß – dass Island ein Land mit extrem langer Dunkelheit und extrem langer Helligkeit ist oder dass nach den Löwen die Hyänen kommen, gefolgt von den Geiern –, ist mir selbst ein Rätsel. Außer den Informationen, die ich aufsauge, sobald der Fernsehapparat oder das Radio eingeschaltet sind – mit Stimmen, die wie das Ende des Regenbogens zu der Welt da draußen führen –, habe ich weder irgendwelchen Unterricht genossen, noch hat man mir aus Büchern vorgelesen. Ich frage mich, ob mein Wissen von dem herrührt, was ich gelernt habe, bevor ich krank wurde. Vielleicht hat sich die Krankheit meines Körpers bemächtigt, von meinem Geist aber nur zeitweise Besitz ergriffen.
    Jetzt ist es kurz nach Mittag, das heißt, es dauert keine fünf Stunden mehr, bis mein Vater kommt und mich abholt. Das ist jeden Tag der schönste Moment, denn dann kann ich das Pflegeheim endlich verlassen, wenn mein Vater hier um 17.00 Uhr auftaucht. Wie glücklich ich an jenen Tagen bin, an denen mich meine Mutter nach Beendigung ihrer Arbeit bereits um 14.00 Uhr abholt, kann ich gar nicht beschreiben.
    Ich fange jetzt an zu zählen – erst die Sekunden, dann die Minuten, danach die Stunden –, und hoffentlich sorgt das dafür, dass mein Vater dadurch etwas schneller bei mir ist.
    Eins, zwei, drei, vier, fünf …
    Ich hoffe nur, dass Dad das Autoradio anstellt, damit wir uns auf dem Nachhauseweg die Übertragung vom Cricketspiel anhören können.
    »Wahnsinn!«, brüllt er dann manchmal, wenn ein Schlagmann ausscheiden muss.
    So ist das auch bei meinem Bruder David, wenn er ein Computerspiel spielt und ich mit im Zimmer bin. »Nächster Level erreicht!«, schreit er dann hin und wieder begeistert, während seine Finger über die Tastatur fliegen.
    Keiner von beiden ahnt auch nur, wie sehr ich diese Momente genieße. Während mein Vater
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