Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war
Autoren: Pistorius Martin
Vom Netzwerk:
spüre, wie eine Hand mein Genick fest umklammert.
    »Es dauert nur eine Sekunde«, sagt eine Stimme. »Wir wollen doch dafür sorgen, dass du ein sauberer Junge bist, stimmt’s?«
    *
    Die Blitzlichter werden heller. Ich komme der Oberfläche näher. Ich möchte sie durchbrechen, doch es gelingt mir nicht. Alles geht viel zu schnell, während ich unbeweglich bin.
    *
    Ich rieche etwas: Scheiße!
    Ich öffne meine Lider. Sie sind so schwer. Ein kleines Mädchen steht vor mir. Von den Hüften abwärts ist es nackt. Die Hand ist braun beschmiert. Es kichert und versucht die Tür zu öffnen.
    »Wohin willst du, Miss Mary?«, fragt eine Stimme, während am Rand meines Blickfelds zwei Füße auftauchen.
    Ich höre, dass die Tür zufällt, danach ein verärgertes Brabbeln: »Nicht schon wieder, Mary!«, schimpft die Stimme. »Schau dir meine Hand an!«
    Das kleine Mädchen lacht. Sein Entzücken ist wie ein leichter Wind, der sanft über einen einsamen Strand streicht und eine feine Spur im Sand hinterlässt. Ich spüre, wie es in mir vibriert.
    *
    Eine Stimme. Jemand spricht. Zwei Wörter: sechzehn und Tod. Ich weiß nicht, was damit gemeint ist.
    *
    Es ist Nacht. Ich liege in meinem Bett. Zu Hause. Ich starre ins Halbdunkel. Ein Haufen Teddybären liegt neben mir, und etwas ruht auf meinen Füßen: Pookie.
    Doch als das vertraute Gewicht verschwindet, merke ich, wie ich aufsteige. Ich bin verwirrt. Ich bin nicht im Meer. Ich befinde mich mitten in der Realität. Dennoch habe ich immer noch das Gefühl, als steige ich auf, als verlasse ich meinen Körper und bewege mich zur Decke meines Schlafzimmers empor.
    Plötzlich weiß ich, dass ich nicht allein bin. Beruhigende Wesen sprechen mir Mut zu. Ich soll ihnen folgen. Ich möchte loslassen, möchte mich der Tiefe überlassen oder den unbekannten Wesen, die jetzt bei mir sind – egal, wer mich zuerst erfasst.
    Da aber erfüllt mich ein Gedanke: Ich darf meine Familie nicht verlassen! Meinetwegen sind sie alle so traurig. Ihr Kummer ist wie ein Leichentuch, das mich jedes Mal umschließt, wenn ich die Wasseroberfläche durchstoße. Sie haben nichts mehr, woran sie sich klammern können, wenn ich mich davonmache. Ich kann nicht gehen.
    Luft dringt in meine Lungen. Ich öffne die Augen. Ich bin wieder allein. Was oder wer auch immer bei mir war, es ist verschwunden.
    Engel.
    Ich habe beschlossen, zu bleiben.

----
    4
Die Schublade
    A ls ich das Bewusstsein wiedererlangte, war mir noch nicht vollkommen klar, was mit mir geschehen war. Wie ein Baby, das ohne Wissen geboren wird und weder seine Bewegungen kontrollieren noch sprechen kann, dachte auch ich nicht darüber nach, was ich konnte oder nicht. Gedanken schossen mir durch den Kopf, von denen ich nicht annahm, dass sie jemals laut geäußert würden, und ich realisierte auch nicht, dass der Körper, den ich zuckend oder regungslos bei mir liegen sah, meiner sein könnte. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich begriff, dass ich völlig allein war inmitten eines Meeres von Menschen.
    Doch als mein Bewusstsein und meine Erinnerung sich langsam zu verzahnen begannen und sich der Geist wieder mit meinem Körper verband, dämmerte mir die Erkenntnis, dass ich anders war als andere. Ich lag auf dem Sofa, während mein Vater sich im Fernsehen eine Sportsendung über Kunstturnen anschaute, und ich war fasziniert von den Körpern, die sich so mühelos bewegten, der Kraft und Stärke, die sie bei jeder Drehung und jedem Schwung offenbarten. Dann blickte ich hinab auf ein Paar Füße und Beine, die ich häufig sah, und ich stellte fest, dass sie mir gehörten. Genauso war es mit den beiden Händen, die jedes Mal unkontrollierbar zitterten, wenn ich sie betrachtete. Sie waren ein Teil von mir, aber ich hatte keinerlei Gewalt über sie.
    Ich war nicht gelähmt: Mein Körper bewegte sich, doch er tat es unabhängig von mir. Meine Gliedmaßen waren spastisch geworden. Sie fühlten sich fremd an, als seien sie in Zement gegossen, und ich konnte sie nicht steuern. Die Leute versuchten ständig, mich dazu zu bringen, meine Beine zu benutzen: Physiotherapeuten krümmten und verbogen sie in schmerzhaften Übungen, um die Muskeln zu aktivieren, aber ohne fremde Hilfe konnte ich sie nicht bewegen.
    Wenn ich einmal ging, dann waren es lediglich ein paar schlurfende Schritte, bei denen mich jemand halten musste, da ich sonst zusammengesackt wäre. Meine Arme waren nicht in der Lage, instinktiv nach vorne zu schnellen, um mich bei einem Sturz zu
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher