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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war
Autoren: Pistorius Martin
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bemerke ich, dass er sich nicht bewegt. Wie mächtig die Kraft meiner geistigen Anstrengung auch erscheinen mag, ihre einzige äußere Offenbarung ist ein zuckender Muskel in der Nähe meines Ellbogens. Die Bewegung ist so winzig, dass ich sicher sein kann, mein Vater wird sie nie bemerken.
    Zorn überkommt mich. Ich könnte platzen vor Wut. Ich ringe nach Luft.
    »Alles in Ordnung, mein Junge?«, fragt mein Vater, als er mein Keuchen hört, und schaut hoch.
    Mir bleibt nichts anderes, als ihn anzustarren und zu beten, dass sich meine stumme Verzweiflung irgendwie selbst vermitteln wird.
    »Jetzt gehen wir brav ins Bett, ja?«
    Das Oberteil eines Schlafanzugs wird mir über den Kopf gezogen, und ich werde aufs Bett gelegt. Ärger macht sich in mir breit. Ich weiß, dass ich ihn überwinden muss: Wenn es mir nicht gelingt, wird der Schmerz zu groß. Ich muss mich im Nichts verlieren, sonst werde ich noch verrückt.
    Manchmal versuchte ich zu stöhnen, in der Hoffnung, jemand könne sich fragen, was es zu bedeuten hat, wenn sich meiner Brust ein Geräusch entringt, doch ich brachte keinen Ton heraus. In späteren Jahren bemühte ich mich zuweilen, zu sprechen, aber ich blieb stumm. Ich war unfähig, einen Stift zu halten, um eine Nachricht zu kritzeln oder einen Hilferuf zu senden. Ich war auf meiner eigenen Insel gestrandet, und der Traum, gerettet zu werden, verflüchtigte sich in dem Maße, wie die Hoffnung in meinem Inneren erstarb.
    Am Anfang war es Horror, dann kam Enttäuschung auf, bis ich mich in mich selbst zurückzog, um zu überleben. Wie eine Schildkröte, die in ihrem Panzer Schutz sucht, lernte ich es, der Realität durch Fantasien zu entfliehen. Mir war schmerzlich klar geworden, dass ich den Rest meines Lebens so ohnmächtig verbringen würde wie jeden gegenwärtigen Tag, und schließlich gab ich den Versuch auf, noch irgendwelche Reaktionen zu zeigen. Stattdessen starrte ich ausdruckslos in die Welt hinein.
    Auf andere Menschen wirkte ich wie eine Topfpflanze: Etwas, dem man Wasser gibt und achtlos in der Ecke stehen lässt. Jeder war so daran gewöhnt, mich als nicht anwesend zu betrachten, dass keiner Notiz davon nahm, als ich langsam wieder präsent wurde. Schließlich hatte man mich bereits vor langer Zeit in eine Schublade gesteckt. Schubladen erleichtern uns das Verständnis, doch sie kerkern uns auch ein, da der Mensch nicht an ihnen vorbeischaut.
    Wir alle haben eine klare Meinung über einander, obwohl die Wahrheit weit entfernt von dem sein kann, was wir zu sehen glauben. Dies ist der Grund, weshalb sich keiner Gedanken darüber machte, was es bedeuten könnte, als ich so große Fortschritte machte, dass ich einfache Fragen wie »Möchtest du Tee?« mit einem Wenden des Kopfes oder einem Lächeln beantwortete.
    Für die meisten Leute, denen ich begegnete, war ich nichts weiter als ein Job. Für das Personal des Pflegeheims war ich ein vertrautes Stück Inventar, das man nach so vielen Jahren nicht mehr beachtete; für Pfleger in anderen Einrichtungen, in die ich geschickt wurde, wenn meine Eltern verreisten, war ich lediglich ein Übergangspatient; und für die Ärzte, die mich untersuchten, war ich »der Junge, der nicht viel machen kann«, wie einer von ihnen bezeichnenderweise zu seinem Kollegen sagte, während ich wie ein Seestern auf einem Röntgentisch lag.
    Meine Eltern hatten Fulltime-Jobs und zwei weitere Kinder, um die sie sich ebenso wie um mich kümmern mussten, doch sie taten alles – vom Wechseln der Windeln bis zum Schneiden meiner Zehennägel. Die Sorge um meine physischen Bedürfnisse kostete ungeheuer viel Zeit und Kraft; daher war es kein Wunder, dass meine Eltern nicht dazu kamen, darüber nachzudenken, ob ich mich über die medizinischen Erfolgsaussichten hinweggesetzt und eine Genesung durchgemacht hatte, die an ein Wunder grenzte.
    Dies ist der Grund, weshalb ich in der Schublade blieb, in die man mich vor so langer Zeit gesteckt hatte. Es war jene, für die ein einziges Wort genügte: ›Idiot‹.

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    5
Virna
    D er Geruch des Mandarinenöls ist scharf, aber süßlich, als Virna meinen Arm massiert. Ihre Hände gleiten geschmeidig über meine Haut, während sie meine bleiernen Muskeln bearbeitet. Ich starre sie an, und sie hebt den Kopf, um mich anzulächeln. Ich frage mich einmal mehr, wieso nicht gleich Hoffnung in mir keimte, als mich dieses Lächeln zum ersten Mal berührte.
    Anfänglich war alles, was ich wusste, dass Virna niemals den Mund öffnete, wenn sie
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