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Als ich unsichtbar war

Als ich unsichtbar war

Titel: Als ich unsichtbar war
Autoren: Pistorius Martin
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jubelt, sobald jemand mit einem Schlag sechs Punkte gemacht hat, oder mein Bruder frustriert die Stirn runzelt, wenn er verzweifelt versucht, seine Punktzahl zu erhöhen, stelle ich mir im Geiste vor, welche Witze ich machen, welche Flüche ich gemeinsam mit ihnen ausstoßen würde, falls ich dazu in der Lage wäre, und für ein paar kostbare Momente habe ich nicht mehr das Gefühl, nur Zuschauer zu sein.
    Ach, wenn Dad doch nur schon da wäre.
    Dreiunddreißig, vierunddreißig, fünfunddreißig …
    Mein Körper fühlt sich heute schwer an, und der Gurt, der mich aufrecht hält, schneidet mir durch die Kleidung ins Fleisch. Meine rechte Hüfte tut weh. Jemand sollte mich hinlegen und von dem Schmerz befreien. Stundenlang ruhig zu sitzen ist nicht annähernd so erholsam, wie ein Außenstehender es sich vielleicht vorstellt. Kennen Sie diese Comics, in denen jemand von einer Klippe stürzt, den Boden berührt und – wumms! – zersplittert? So fühle ich mich – als wäre ich in Millionen Splitter zersprungen, und jedes Teil tut weh. Die Schwerkraft wirkt schmerzhaft, wenn sie auf einem Körper lastet, der seinen Zweck nicht erfüllt.
    Siebenundfünfzig, achtundfünfzig, neunundfünfzig. Eine Minute.
    Noch vier Stunden und neunundfünfzig Minuten.
    Eins, zwei, drei, vier, fünf …
    Auch wenn ich mir noch so große Mühe gebe, meine Gedanken kehren immer wieder zu diesem verdammten Schmerz in der Hüfte zurück. Ich denke an den zersplitterten Mann aus dem Comic. Manchmal wünschte ich, ich könnte wie er auf dem Boden aufprallen und in Millionen Einzelteile zerspringen. Denn vielleicht könnte ich dann genau wie er aufspringen und auf wundersame Weise wieder zusammengefügt sein, bevor ich losrenne.

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    2
Die Tiefe
    B is zu meinem zwölften Lebensjahr war ich ein ganz normaler Junge – vielleicht etwas scheuer als die meisten anderen und nicht so zu Raufereien aufgelegt, aber glücklich und gesund. Was mich am meisten begeisterte, war Elektronik, und ich besaß dafür eine derart natürliche Begabung, dass meine Mutter mir im Alter von elf Jahren das Anbringen einer äußerst komplizierten Steckdose anvertraute, da ich mich schon seit Jahren mit Stromkreisen beschäftigt hatte. Mein Talent reichte auch aus, um im museumsreifen Computer meiner Eltern einen Reset-Button unterzubringen und ein Alarmsystem zu basteln, mit dem ich mein Schlafzimmer gegen meine jüngeren Geschwister David und Kim schützen konnte. Beide versuchten ständig, in mein kleines, mit Lego-Teilen vollgestopftes Königreich einzudringen. Doch das einzige Lebewesen, dem ich außer meinen Eltern den Zutritt gestattete, war unser kleiner gelber Hund namens Pookie, der mir überallhin folgte.
    Über die Jahre hinweg habe ich bei den unzähligen Untersuchungen und Arztterminen genau zugehört, und so erfuhr ich, dass ich im Januar 1988 aus der Schule nach Hause kam und über Halsschmerzen klagte. Danach konnte ich nicht mehr am Unterricht teilnehmen, und in den folgenden Wochen und Monaten hörte ich auf zu essen, begann tagsüber stundenlang zu schlafen und beschwerte mich darüber, dass das Laufen immer schmerzhafter für mich wurde. Mein Körper wurde zunehmend schwächer, da ich ihn nicht mehr forderte, und dasselbe geschah mit meinem Geist: Zunächst vergaß ich Fakten, dann private Dinge wie das Wässern meines Bonsai-Bäumchens und am Ende sogar Gesichter.
    Um mein Erinnerungsvermögen zu unterstützen, gaben mir meine Eltern eine Mappe mit Familienfotos, die ich bei mir tragen sollte, und meine Mutter Joan zeigte mir jeden Tag ein Video von meinem Vater Rodney, wenn dieser auf Geschäftsreise war. Doch auch wenn meine Eltern hofften, durch die ständige Wiederholung das Abdriften meiner Erinnerung verhindern zu können, blieb das Ganze erfolglos. Mein Sprachvermögen verschlechterte sich, während ich langsam vergaß, wer und wo ich war. Die letzten Wörter, die ich je von mir gab, kamen ungefähr ein Jahr nach den ersten Krankheitssymptomen, als ich im Krankenhaus lag.
    »Wann nach Hause?«, fragte ich meine Mutter.
    Nichts drang zu mir durch, während meine Muskeln verkümmerten, die Gliedmaßen spastisch wurden und Hände und Füße sich wie Klauen einrollten. Um sicherzustellen, dass ich nicht verhungerte, nachdem ich immer dünner wurde, weckten mich meine Eltern auf und fütterten mich. Mein Vater stützte mich, meine Mutter schob mir mit einem Löffel Essen in den Mund, und ich schluckte instinktiv. Abgesehen hiervon bewegte ich
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